Baltische Kapitalen und St. Petersburg:Europa in einer Nuss-Schale

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Auf der Mistral durch die Ostsee: Eine Bildungsreise mit unerwarteten Einsichten

Showgirl Sally Bowles müsste noch dazulernen, wollte sie auf der Mistral anheuern und ihr "Life is a cabaret" zum Besten geben. Denn mit "Willkommen, bienvenu, welcome" ist es an Bord nicht getan: Da würden die italienischen und spanischen Passagiere laut protestieren, wenn nicht auch Benvenuto und Bienvenido erklängen. Aber keine Sorge, das Abendprogramm ist fünfsprachig, ebenso wie die Speisekarten, die tägliche Bordzeitung, die Durchsagen zum Merengue-Tanzkurs oder zum Captain's Cocktail. Denn die Mistral gehört zur Flotte von Festival, eines Kreuzfahrtunternehmens, das sich ausdrücklich als europäischer Anbieter versteht.

Guter Treffpunkt an Deck: der Schornstein der Mistral. (Foto: Foto: Tönnishoff)

So ähnlich, denkt man sich, könnte es zugehen, ginge das Europäische Parlament auf große Fahrt: eine laute, fröhliche Kakophonie, in der jede Nation ihr Recht auf die eigene Sprache einfordert, und wo manche ein bisschen lauter sind als andere. Ein schwimmendes Labor für interkulturelle Studien: Auf engstem Raum sind da Italiener, Spanier, Engländer, Deutsche, Schweizer, Österreicher, Franzosen, Skandinavier, zunehmend Russen, manchmal auch Japaner versammelt - und was geschieht? Zwar sind sie sich über das Reiseziel und das Transportmittel einig, aber damit ist es genug der Gemeinsamkeiten. Denn jede Nation hat ihre ganz eigenen Vorstellungen und Vorlieben, wie man sich die Zeit unterwegs vertreibt. Die Mittelmeeranrainer singen gemeinsam Karaoke in der Disko, die Engländer spielen Bingo, starren auf den Horizont und trinken Tee, die Deutschen machen Kaffeeklatsch und schreiben sehr viele Ansichtskarten. Annäherungen bleiben die Ausnahme.

Da ist es schon fast zu viel der Symbolik, dass die Reise zu den baltischen Ostseemetropolen gehen soll, dorthin, wo die Außengrenzen der EU bald neu gezogen werden: Von Kiel über Stockholm und Tallinn bis nach St. Petersburg, ganz so, als wollten die alten EU-Mitglieder schon mal Ausschau halten, was da kommt.

Jetzt aber erst einmal Leinen los. Kaum zu glauben, dass es an der Ostsee so heiß werden kann, aber die Mistral läuft bei mediterranen Temperaturen aus. Die Liegen im Poolbereich sind vergeben - ganz ohne böse deutsche Badetuchpolitik, die Kellner servieren Cappuccino und kühle Drinks. Die Stimmung ist locker und doch angespannt, denn der Beginn einer Reise birgt zugleich eine große Erwartung in sich. Ein Versprechen, das es einzulösen gilt. Den Erwartungen der 1115 Passagiere aus 18 Ländern gerecht zu werden, ist die Aufgabe der Crew und des Managements an Bord. Keine einfache Sache: Das Sprachgewirr der Gäste wird noch bunter durch die Crew, die aus 30 verschiedenen Ländern der Erde kommt. Da ist es vom Sprachgewirr zur babylonischen Sprachverwirrung zuweilen nur ein kleiner Schritt. Weit über die Hälfte der Gäste sind Deutsche. "Eine Ausnahme", beteuert Kreuzfahrtdirektorin Romana Calvetti, sonst seien die Nationalitäten an Bord sehr ausgewogen. Egal. Die Mistral ist so riesig groß, dass sie auch Rückzugsnischen bietet, will man den eigenen oder den anderen Landsleuten mal aus dem Wege gehen: Am Heck des Schiffes befinden sich kleine Freisitze, die meist menschenleer sind. Auch der Saunabereich wird nur von wenigen genutzt, vielleicht weil der Eintritt zwölf Euro kostet. Aber Ruhe und Erholung hat nun mal ihren Preis. Und auf Deck zwölf, dem Sonnendeck, ist außer dem Wind, den Seevögeln und dem gelegentlichen Verrücken eines Deckchairs kaum ein Laut zu vernehmen. Essen, trinken, schlafen, Landausflug? Mitnichten ist das alles. Wer das süße Nichtstun im Liegestuhl nicht aushält, für den organisiert das unermüdliche Animationsteam jeden Tag ein neues Programm. Mal wird Mister Mistral gesucht, mal das ideale Paar. Ob Serviettenfalten oder Formationstänze, ob Dart-Turnier oder Bastelkurs, jeder Passagier kann seine Tage voll packen, sich unterhalten, belehren, berieseln lassen.

Die Landausflüge sind nach dem klassischen Spannungsbogen angeordnet. Es beginnt eher unaufgeregt, wenngleich malerisch auf der Insel Visby, steigert sich in Stockholm und vor allem in der estnischen Hauptstadt Tallinn, um dann im eindeutigen Höhepunkt, St. Petersburg, und der Besichtigung des legendären Bernsteinzimmers zu kulminieren.

St.Petersburg ist Anfang Juni noch von der 300-Jahr-Feier herausgeputzt, all seine vergoldeten Zwiebeltürmchen glänzen in der Sonne. Doch trotz Bootsfahrt auf der Newa, trotz Busfahrt vorbei an den wichtigsten Bauwerken, so richtig spannend wird die Stadtrundfahrt für viele deutsche Touristen erst in Zarskoje Selo, jenem vormals kleinen Zarendörfchen, in dem sich der Katharinenpalast und das nunmehr endlich fertig gestellte Bernsteinzimmer befinden. Da kommt bei älteren Besuchern Rührung auf, inmitten all des prunkvollen, überladenen Goldzierats, der die anderen Zimmerfluchten und Säle des Katharinenpalastes schmückt, steht der Besucher unvermittelt in einem relativ kleinen, über und über mit Bernsteinschnitzereien verzierten Raum. Leider ist die Verweildauer genau fixiert, und ein unerbittlicher weiblicher Zerberus am Ein- und Ausgang des Raums komplimentiert die verzauberten, bewegten, tief beeindruckten Besucher resolut hinaus.

Schade. Schade auch, dass die anschließend gezeigte Ausstellung zum Bernsteinzimmer, mit Skizzen, teils kolorierten Entwürfen, einigen Original-Exponaten, nach denen die Künstler gearbeitet und rekonstruiert haben, nur in russischer Sprache erläutert werden. Sogar die Franzosen springen soweit über ihren Schatten und ringen sich in ihren Museen wenigstens zur Zweisprachigkeit durch.

Der Ausflug ist - wie alle anderen auch - generalstabsmäßig organisiert, und das ist gut so, wie sich herausstellt. Vor der Mistral wartet eine Armada von Bussen auf die Gäste, die je nach Landessprache in die Gefährte sortiert und dort von muttersprachlichen Führern betreut werden. Bis jeder der rund tausend Ausflügler einen Platz im richtigen Bus hat, das ist schon ein logistisches Kunststück - und auch eine Geduldprobe für die Passagiere. Am Abend ist man froh, trotz aller Eindrücke, wieder "zu Hause" zu sein - und lernt einen Tag auf See richtig zu schätzen. Nicht nur das Wetter spielt mit, auch die Jahreszeit kurz vor der Sommersonnenwende ist ideal für eine Reise nach Nordosten: Dank der Zeitverschiebung erleben die Passagiere die legendären "weißen Nächte" von St.Petersburg. Erst gegen Mitternacht wird es dunkel, und wenige Stunden später ist es schon wieder taghell. Vor allem die Jüngeren an Bord finden ohnehin, dass die Nacht zum Schlafen zu schade ist. Wozu gibt es schließlich eine Disko an Bord? Und wozu sonst hätte die Animationstruppe Verstärkung aus Kuba bekommen, die den Passagieren das Salsatanzen beibringt?

Wenig überraschend kennt in der Disko schon bald jeder jeden. Denn es muss auch gesagt werden, dass dort zum einen eher die Südländer, zum anderen eher die jüngeren Gäste anzutreffen sind - beide sind auf dieser Kreuzfahrt in der Minderzahl. Und was den Altersdurchschnitt angeht, ist eben die Gruppe jenseits des Erwerbslebens an Bord eindeutig in der Überzahl. Genau das wollen die Festival-Manager ändern. Denn neben dem europäischen Gedanken will Festival der Vier-Sterne-Anbieter sein, der Kreuzfahrten nicht nur für Jüngere attraktiv und bezahlbar, sondern auch für Familien erschwinglich macht. Kinder bis 17 Jahren reisen für 200 Euro in der Kabine der Eltern mit. Auch Frühbucher-Rabatte sollen Gäste an Bord holen: Wer bis 31.12.2003 bucht, spart 400 Euro - pro Person. Die Rechnung scheint aufzugehen: Der Marktanteil von Festival an Kreuzfahrten in Deutschland wuchs von 6,8 Prozent im Jahr 2001 auf 10,1 Prozent in 2002. Dieses Jahr liegt er bereits bei geschätzten 14,8 Prozent.

Vorsicht bei Nebenkosten

Dass bei dieser engen Kalkulation an Deck mehr Kunststoff als Teak zu sehen ist, liegt auf der Hand. Auch, dass das Personal nicht in Gänze die Hotelfachschule durchlaufen haben kann. Und die Nebenkosten in Restaurants, Bars und Cafés können sich durchaus zu einer erklecklichen Summe addieren. Denn das All-inclusive-Konzept anderer Anbieter ist bei dieser Niedrigpreispolitik nicht zu realisieren. Auch das Essen in den Restaurants ist von unterschiedlicher Qualität. Am besten speist der Gast - wen verwundert's - im besten Lokal, dem Rialto, dort werden aber eben nur die Passagiere der obersten Kategorie bedient.

Für alle Reisenden im Angebot sind die Abendshows, das Unterhaltungsprogramm, die freundliche, stets um den Gast bemühte Crew - und vor allem die Mistral selber. Sie ist ein gutes Schiff für Kreuzfahrtanfänger, die erst mal schnuppern wollen, ob das was wäre für sie, denn die Mistral senkt die Schwellenangst: Der Preis ist erschwinglich, der Dresscode ist eher casual als formell. Ebenso ist der Umgangston locker, freundlich ohne Gespreiztheit. Unter den Passagieren finden sich neben Wohlhabenden auch Durchschnittsverdiener, neben Paaren auf Honeymoon auch Silberhochzeiter. Genau dieser Mix, die bunte Vielfalt ist es, die den Reiz des Bordlebens ausmacht. Wollte man der stattlichen Mistral Unrecht tun, könnte man sagen, sie ist Europa in einer Nuss-Schale. Polyglott, multikulti, mit unterschiedlichen Mentalitäten, Ansichten und Bedürfnissen.

Nur bei der obligatorischen - und fünfsprachigen - Lebensrettungsübung fragt sich der eine oder andere, ob es im Ernstfall allein mit Englisch nicht schneller ginge.

© Ingrid Brunner - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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