Zwiespältiges Verhältnis:Merkels Russland

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Die deutsche Regierungschefin liebt die russische Kultur, die Musik und die Sprache. Aus Moskau brachte die Kanzlerin einst ihre erste Beatles-Platte mit - und fürchtete die Machthaber im Kreml. Heute trifft sie bei ihrem Antrittsbesuch Präsident Putin.

Evelyn Roll

Verstand und Verständnis entstehen möglicherweise auch durch Verstehen. Ein Unterschied zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel ist, dass Angela Merkel in Russland nicht nur Wladimir Putin versteht, der bekanntermaßen perfekt Deutsch spricht. Merkel spricht Russisch und kann, wenn sie sich nach dem Gespräch mit Putin im Kreml ostentativ mit Menschenrechtsgruppen, Journalisten, Oppositionspolitikern und Künstlern in der Deutschen Botschaft trifft, auf Dolmetscher verzichten.

Ein "Sprachgenie": Angela Merkel. (Foto: Foto: Reuters)

Schon als Schülerin war Merkel nicht nur das Mathe-Ass, sondern auch ein "Sprachgenie", wie ihre Russisch-Lehrerin Erika Benn sagt. Deswegen durfte sie 1970 zur Russisch-Olympiade nach Moskau reisen, weil sie nicht nur eine der Besten ihrer Klasse war, sondern der ganzen DDR.

Aus Moskau brachte sie damals ihre allererste Beatles-Platte Yellow Submarine mit zurück ins heimatliche Templin. Ihre Mitschüler an der EOS, der Erweiterten Oberschule, erzählen übrigens, dass Merkel eine jener Einserschülerinnen war, die trotzdem nett ist, die andere abschreiben lässt und für sie, wenn es sein muss, eben auch die Russisch-Prüfung zum Auswendiglernen ausarbeitet.

Trampen durch Russland

Angela Merkel war als Jugendliche aber nicht nur in Moskau und Leningrad, sondern auch in der Ukraine. Und sie trampte mit zwei Freunden nicht ganz legal und auf abenteuerliche Weise durch die südlichen Sowjetrepubliken bis in den Kaukasus. Im georgischen Tiflis übernachtete sie bei Obdachlosen im Bahnhofsasyl.

Sie liebt die russische Kultur, die Musik und die Sprache. Die um Templin stationierten sowjetischen Soldaten, mit denen sie einst gerne plauderte, waren es, die ihr Mut machten, wenn sie trauerte, dass sie wohl erst 65 Jahre alt werden müsse, bevor sie einmal in den Westen reisen dürfe.

"Die haben mir immer gesagt: Das Land wird viel früher wieder vereinigt. Für diese russischen Soldaten war es immer klar. So ein geteiltes Land ist ein unnatürlicher Zustand. Und man soll sich mal nicht solche Sorgen machen", sagte sie selbst einmal.

Merkels DDR-Weltbild aber war vor allem dadurch geprägt, dass sie die sowjetische Führung als Diktatur und Besatzungsmacht wahrnahm. Auch deswegen wurden die Bundestagsdebatten zwischen Joschka Fischer und Angela Merkel immer dann interessant, sobald es um das Jahr 1968 ging. In den Sommerferien 1968 war die 14-jährige Angela Merkel mit Eltern und Geschwistern im Riesengebirge. Von dort aus brachen ihre Eltern für zwei Tage nach Prag auf und berichteten begeistert von Gesprächen, Zukunftshoffnung und Westzeitungen auf dem Wenzelsplatz.

"Das war dann ganz schrecklich"

Am 21.August 1968 stand Merkel dann in Pankow bei ihrer Großmutter in der Küche vor einem kleinen Radio und hörte: Russische Truppen sind in Prag einmarschiert. "Das war dann ganz schrecklich", erzählte sie später.

Wer im Osten trotz des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 und trotz des Mauerbaus 1961 immer noch an die Reformfähigkeit der kommunistischen Länder geglaubt hatte, war geheilt. Im Westen aber machte die Studentenbewegung die sozialistischen Theorien erst richtig modern und lähmte mit ihrem wohlwollenden Blick auf den real existierenden Sozialismus die ohnehin schwache Opposition in der DDR.

Die persönliche Geschichtserfahrung von Spitzenpolitikern bestimmt stets auch ihr diplomatisches Auftreten. Deswegen kann Angela Merkel mit einiger auch biografischer Glaubwürdigkeit in Amerika davor warnen, zu schnell von Moskau die Gewährung von Pressefreiheit und Oppositionsrechten zu erwarten - und drei Tage später in Russland genau dies einfordern.

© SZ vom 16.1.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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