Zuwanderung:Von lautem Streit und leiser Heuchelei

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Es hätte ein historischer Tag im Parlament werden können - es wurde wenigstens ein bemerkenswerter.

Christoph Schwennicke

(SZ vom 2.3.2002) - Man hört förmlich die Bretter unter den Füßen schmatzen, so als würde man sich über einen Lattenweg in einem dunklen, nassen Moor bewegen. Auf einem "schlammigen Holzweg" sieht Innenminister Otto Schily also die Union und ruft ihnen wie der Wächter vom Dartmoor hinterher, doch bitte umzudrehen, um nicht im tückischen Sumpf zu versinken.

Das Holz als Allegorie hat es dem Minister heute angetan, und so hält er der Union noch vor, nicht einmal die Kraft zu haben, sich die "Bretter von Ihrem Kopf abzuschrauben."

Was für ein Tempo in den abschließenden Schlagabtausch im Bundestag über das Zuwanderungsgesetz gekommen ist - und das nach zwei Stunden Debatte! Otto Schily und auch die Grünen-Fraktionschefin Kerstin Müller beherzigen an diesem Freitagvormittag im Plenum des Reichstages eine der wichtigsten Politiker-Regeln: dass ein flammendes Plädoyer aus der Emphase heraus kommen muss, dass man sich aufgeregt haben muss und doch so weit wieder im Griff, diese Wut in positive Energie zu wandeln.

"Ich habe mich getäuscht!" - wann hat man so einen Satz schon einmal von Otto Schily gehört? Er habe sich getäuscht, sagt er, weil er geglaubt habe, die Union sei an einem Ergebnis interessiert. Er habe den Ministern und Ministerpräsidenten der großen Oppositionspartei die Schönheiten bayerischer Klöster und was sonst noch alles gezeigt, um ihnen dabei sein Konzept der Zuwanderung nahe zu bringen.

"Sie dürfen nicht wollen!"

Und jetzt das! Totalblockade auf den letzten Metern. "Sie sind auf der Flucht vor der Verantwortung", zürnt der Imperator des Innern. Nebenbei erfährt der CSU-Abgeordnete Zeitlmann auf einen Zwischenruf hin, er sei der lebende Beleg für den in der Pisa-Studie beschriebenen Bildungsmangel der Deutschen. "Sie behaupten", wettert der Innenminister unter dem gefälligen Blick des Kanzlers, "Sie können dem Gesetz nicht zustimmen? Sie wollen dem Gesetz nicht zustimmen".

Noch schlimmer: "Sie dürfen nicht wollen!" Und dann kommt der Satz, in den die Debatte um die Zuwandereung an diesem Vormittag immer wieder mündet: "Mit dem Sträuber Stoiber können Sie nicht beweisen , dass man Ihnen eine Regierung anvertrauen kann!", sagt der bayerische Spitzenkandidat für die Bundestagswahl.

Das also ist der historische Tag, an dem das Zuwanderungsgesetz verabschiedet werden soll, das ebenfalls historische, für die Regierung die überfällige Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, für die Opposition ein verhängnisvoller Fehler (obwohl sie vor nicht allzu langer Zeit ähnlich redete wie heute die Regierung). Für einen Moment muss hier die Antwort vom Unionsfraktionsvize hintanstehen für die Rückblende auf neun Uhr morgens, als müde die ersten Abgeordneten ins Plenum tröpfeln.

Der SPD-Abgeordnete Rüdiger Veit preist bemüht das zweitwichtigste Reformwerk der Rot-Grünen Regierung; sieben nach neun trudelt Otto Schily ein, dann Außenminister und Grünen-Guru Joschka Fischer. Der Kanzlerstuhl mit der hohen Lehne bleibt leer, Schröder habe "wichtige Akten" abzuarbeiten, heißt es aus dem Kanzleramt.

Die Unionsfraktion nutzt die exekutive Präsenzschwäche zu der einen oder anderen Spitze. Doch auch die Gegenseite hat ihr Folterinstrument: Hinten, in der ersten Reihe ohne Tische, der Holzklasse des Plenums, glänzen silbern die Köpfe von Norbert Blüm, Heiner Geißler und Christian Schwarz-Schilling, mitunter ergänzt um die stolze Rita Süssmuth - heimliche oder offizielle Sympathisanten des Zuwanderungsgesetzes.Da sitzen sie, mit ein wenig Abstand zum Rest, und erfreuen sich des Lobpreises, gesungen vom politischen Gegner.

Man kann nicht alle Reden aufzählen, und bei manchen ist das auch nicht schlimm. Ein Platz muss aber der grünen-Fraktionschefin Kerstin Müller eingeräumt werden. Oft genug hat sie lausig geredet, inhaltlich dünnes, mit dünner Stimme.

Aber an diesem Morgen läuft sie zu großer Form auf. Sie wendet sich an die Schlüsselfigur in dem Drama, an Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm von der CDU, der von der Länderbank aus die Debatte verfolgt. Wenn Brandenburg dem Gesetz zustimmt, kommt es durch den Bundesrat. Also fleht Kerstin Müller die "Sachorientierten und die Vernünftigen in der Union" an: "Folgen Sie nicht dem Blockadekurs von Stoiber. Stimmen Sie zu!" Die Miene des Ex-Generals verrät - nichts.

Erwähnenswert vielleicht noch die liebenswerte Formulierung von Max Stadler, dem FDP-Abgeordneten, der die Enthaltung seiner Fraktion eine "wohlwollende" nennt. In bewährter Rolle CSU-Landesgruppenchef Michael Glos, der seinen kontinuierlichen Meinungsabgleich mit den "Menschen im Münchner Hasenbergl und im Berliner Wedding" kundtut, der SPD bescheinigt, sich von der Arbeitnehmer- zur "Soziologenpartei" gewandelt zu haben, die - eine überraschende Wende in Glos' Rhetorik - immer nur das tue, was die Großindustrie vorschreibe. Man kenne sich gar nicht aus, staunt PDS-Fraktionschef Roland Claus, wenn die Union das Großkapital angreife und die Grünen für die Wirtschaft würben.

Geplänkel. Setzen wir also wieder ein gegen halb zwölf, als Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach eigentlich mit seiner Antwort auf Innenminister Schily die Debatte beenden soll. "Sie müssen hier gar nicht so rumbrüllen", sagt er, und in Anspielung auf Schilys Arbeitsstil: "Wir sind hier nicht in Ihrem Ministerium. Wir sind im Bundestag." Bosbach zitiert genussvoll Otto Schily, den von 1998, der ein Zuwanderungsgesetz für überflüssig hält. "Die Leute erwarten einen prinzipienfesten Innenminister", klopft Bosbach ans Standbild vom Eisernen Otto. "Den können sie haben - aber erst nach dem 22. September."

Wie eine Klasse vor der Pause

Da ist sie wieder, die Bundestagswahl, und von historischer Debatte ist nichts mehr zu spüren. Der inzwischen eingetroffene Bundeskanzler geht während Bosbachs Rede einige Male zur amtierenden Bundestagspräsidentin Anke Fuchs. Die erklärt, der Kanzler habe um das Wort gebeten, die Abstimmung verzögere sich.

In der Kanzlerverlängerung ist zu beobachten, wie wenig der Amtsnimbus wirkt, wenn eine Regierungserklärung nicht zu Beginn, sondern am Ende einer hitzigen Debatte kommt. Es ist ein Rumoren und Rufen in den Reihen der Union. Dann versagt auch noch die Tonanlage. Gerhard Schröder wirkt wie ein Lehrer vor der Klasse kurz vor der Pause; erst ein Ordnungsruf von Anke Fuchs rettet die Disziplin.

Schröder spricht betont staatstragend. Er fürchte, dass bis zur Sitzung am 22. März der Bundesrat "missbraucht" werde (hier schwillt höhnisches Gelächter an), dass nur noch darüber geredet werde, "wer gewinnt". Dann die Abstimmung: 321 mal Ja fürs Gesetz, 225 mal Nein, 41 Enthaltungen.

Es ist an diesem historischen Tag im Bundestag viel und laut gestritten worden. Es ist aber auch ruhig und leise geheuchelt worden.

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