Zeitzeugen:Letzter Dienst an der Freiheit

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Eine hundert Jahre alte Zeitzeugin: Luise Nordhold, seit 1931 SPD-Mitglied, kämpft mit ihren Memoiren gegen Populismus.

Von Thomas Hahn, Ihlpohl

Die jungen Genossen haben gesagt: Luise, erzähl. Und Luise Nordhold hat erzählt. Von Bomben. Von Hunger. Vom Schrecken der Hitler-Zeit. Vom Glück, mehr als 70 Jahre in Frieden zu leben. "So ist auch das Buch entstanden", sagt Luise Nordhold, 100, seit 1931 SPD-Mitglied. Aufschreiben, was war - das wünschten sich Leute aus ihrer Partei, die die Gelegenheit nicht verpassen wollten, noch etwas aus erster Hand vom deutschen Faschismus und Wiederaufbau zu erfahren. Und natürlich hat sich Luise Nordhold nicht lange bitten lassen. Sie hört nicht mehr gut, sie geht am Rollator, und wegen ihrer schlechten Augen hat sie das Lesen aufgeben müssen. Aber für Reisen in die Vergangenheit ist sie immer zu haben. "Was bei mir noch funktioniert", sagt sie, "ist das Gedächtnis."

"Für Freundschaft, Solidarität und soziale Gerechtigkeit", heißt ihre Biografie. Der Jurist Tim Jesgarzewski, Jahrgang 1978, hat sie aufgeschrieben. An diesem Donnerstag wird die zweite Auflage in Bremen vorgestellt. Luise Nordhold wird auch dabei sein und wieder diese Verantwortung wahrnehmen, die sie selbst aus ihrem Status als älteste Sozialdemokratin Deutschlands ableitet. Von der anderen Zeit zu erzählen, ist für sie so etwas wie der letzte Dienst, den sie der Gesellschaft erweisen kann: "Die Zeitzeugen fehlen uns ja." Und sie weiß, dass Zeitzeugen gerade jetzt gebraucht werden, da Populisten mit nationalistischem Geschrei die Massen mobilisieren und der türkische Präsident Erdoğan seine Autokratie-Kampagne mit Nazi-Vorwürfen gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel garniert.

"Frechheit", schimpft Luise Nordhold und wundert sich, wie leichtfertig manche Machthaber mit Schlagworten des Schreckens um sich werfen. Ob so ein Jungspund wie Erdoğan mit seinen 63 Jahren überhaupt versteht, was Nazi-Methoden sind? Luise Nordhold jedenfalls hat sie erlebt. Sie kann sich noch erinnern, wie Adolf Hitler die Sinne der Deutschen verblendete, ehe er Millionen von Menschen in Krieg und Verderben stürzte. Luise Nordholds erstes politisches Vorbild war ihr Vater, der Dreher Wilhelm Haverich, ein aufrechter Sozialdemokrat. Der hatte "Mein Kampf" gelesen, er wusste, welches Unheil Hitler bringen würde, hörte heimlich BBC und übertrug seine Haltung auf seine Kinder. Luise Nordhold half, Geld für die zurückgebliebenen Frauen von KZ-Häftlingen zu sammeln, und verweigerte den Hitler-Gruß. "Dass wir uns widersetzt haben, wäre uns in Berlin zum großen Schaden gewesen", sagt Luise Nordhold, in Bremen konnten sie mehr wagen. "Bremen war eine rote Stadt."

Luise Nordhold ist in ihrem Leben vieles gewesen: Putzfrau, Packerin, Mandolinenspielerin, Registraturschreiberin, Handarbeitslehrerin, Ehefrau, Mutter, Großmutter, Urgroßmutter. Aber ein hohes Tier in der SPD war sie nie. In Ihlpohl bei Bremen, wo sie seit 1944 wohnt, saß sie einst im Gemeinderat und war Vorsitzende des von ihr mitbegründeten Ortsvereins der Arbeiterwohlfahrt. Sie gehört zur Spezies der ehrenamtlichen Basispolitiker, denen der Bezug zu Menschen wichtiger ist als eine Karriere. Und doch gibt sie heute ständig Interviews. Eine hundertjährige Frau mit klarem Verstand ist nun mal ein Ereignis. Aber es steckt mehr in ihren Auftritten.

Wenn Luise Nordhold mit ihrer durchdringenden, leicht brüchigen Stimme erzählt, erwacht der Geist einer heileren Sozialdemokratie. Im Kampf um die soziale Balance kommt auch die SPD längst nicht mehr ohne Härten und frostiges Wirtschaftsdenken aus. Luise Nordhold verkörpert eine SPD, die Reichtum ganz in den Dienst des Gemeinwohls stellt. Wenn sie an die Agenda 2010 ihres Parteigenossen Gerhard Schröder denkt, will sie nicht ungnädig sein. "Schröder hat Arbeitslose von der Straße geholt." Andererseits nimmt sie ihm übel, dass er nach der Kanzlerschaft in die Wirtschaft wechselte. Luise Nordhold sagt: "Wenn ich als Politiker für Arbeiter gekämpft habe, kann ich nicht in die Wirtschaft gehen und viel Geld verdienen." Und sie sagt das mit diesem leisen, alten SPD-Stolz, mit dem sie selbst ganz gut über die Runden gekommen ist.

© SZ vom 23.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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