Wladimir Ryschkow:Russische Reflexe

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Verärgert reagiert Moskaus Führung auf die Kritik des Westens: mit dem Versuch, die Europäische Union zu spalten, mit Druck auf die eigenen Nachbarn. Dabei sieht ein großer Teil der russischen Bevölkerung die EU durchaus positiv.

Wladimir Ryschkow

Wladimir Ryschkow war von 1993 bis 2007 Abgeordneter der Staatsduma und Vorsitzender der behördlich aufgelösten Republikanischen Partei Russlands

Aus dem Russischen: Daniel Brössler

Im Frühjahr endet die achtjährige Präsidentschaft Wladimir Putins. Sie hat das politische und wirtschaftliche System Russlands wesentlich verändert. Das gilt auch für die Außen- und Sicherheitspolitik.

Zwei fundamentale Ergebnisse von Putins Herrschaft sind allgemein bekannt. Russland hat sich endgültig in einen autoritären Staat verwandelt, in dem systematisch die Menschenrechte verletzt werden und die Gewaltenteilung sowie normale Bedingungen für politischen Wettbewerb abgeschafft wurden. Gleichzeitig ist Russland wirtschaftlich und geopolitisch stärker geworden. Sein Einfluss und seine Aktivität in der internationalen Arena haben erkennbar zugenommen.

So hat Russland sein Veto gegen eine Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen angekündigt, welche die faktische Unabhängigkeit des Kosovo vorsehen würde. Es hat die Anwendung des Vertrages über konventionelle Streitkräfte (KSE-Vertrag) ausgesetzt.

Ein neues Zeitalter der Konfrontation

Der Kreml kritisiert das Verhalten der USA und der Europäischen Union im Irak, im Libanon und in Palästina scharf. Russland hat sich entschieden gegen die Stationierung von Elementen der amerikanischen Raketenabwehr in Polen und Tschechien ausgesprochen. Eine neuerliche Erweiterung der Nato in Richtung Osten hält es für nicht hinnehmbar. Faktisch hat Russland Sanktionen gegen Georgien und Moldawien und einzelne baltische Länder verhängt.

Zu den jüngst abgehaltenen Parlamentswahlen in Russland waren Hunderte Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nicht zugelassen. Ihre Position wurde im Vorhinein als voreingenommen bezeichnet. Russland verweigert die Ratifizierung der anstehenden Reform des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

Während sich die Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen dynamisch entwickeln (2007 ist Russland zum drittwichtigsten Handelspartner der EU aufgestiegen), setzt sich die sichtliche Verschlechterung der politischen Beziehungen fort, auch im Bereich Verteidigung und Sicherheit. Der bekannte russische Experte Sergej Karaganow hat das unlängst als neues "Zeitalter der Konfrontation" bezeichnet.

In Russland selber haben sich in den vergangenen Jahren wie in aller Welt die antiwestlichen und antiliberalen Stimmungen fraglos verstärkt. Keine geringe Rolle spielten dabei die vom Kreml kontrollierten Fernsehsender.

Täglich diskreditieren sie zielgerichtet die westlichen Werte, ja alles, was der Westen tut. Die offiziellen russischen Medien haben zum Beispiel die Ereignisse der "orangefarbenen Revolution" in der Ukraine ausschließlich als das Ergebnis der Zersetzungsarbeit der westlichen Staaten und Geheimdienste dargestellt.

Und im Zuge der jüngsten "Parlamentswahlen" richtete sich der entscheidende Schlag der Kremlpropaganda nicht gegen die Kommunisten oder Nationalisten, sondern gegen die russischen Liberalen. Diese sind im Parlament nun nicht einmal mehr mit einem einzigen Abgeordneten vertreten - ganz im Gegensatz zu Putins Partei "Einiges Russland", die über 70 Prozent der Mandate verfügt, sowie zu den Kommunisten und Nationalpopulisten des Wladimir Schirinowskij.

Positive Haltung gegenüber der EU

Dabei ist die Mehrheit der russischen Bevölkerung dem Westen gegenüber immer noch nicht feindlich eingestellt. Das gilt ungeachtet der tiefen Enttäuschung angesichts der misslungenen demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen der neunziger Jahre sowie bestimmter unfreundlicher Schritte des Westens. Gemeint sind die Nato-Osterweiterung, die Bombardierung Jugoslawiens oder auch die unveränderte Visumspflicht für die Einreise in die EU und die USA.

Vor allem die Einstellung zur EU ist dennoch ausgezeichnet. Die positive Haltung ihr gegenüber fällt in den Umfragen nicht unter 70 Prozent. Und selbst im Verhältnis zu den USA überwiegt die positive Einstellung mit 50 Prozent gegenüber der negativen mit 35 Prozent.

Die Russen lehnen auch die Demokratie nicht ab. Eine Mehrheit der Bevölkerung erkennt Werte wie Meinungsfreiheit, freie Wahlen, Pluralismus der Ideen, freie Wahl des Wohnsitzes und privates Unternehmertum an.

Die Gesellschaft ist aber extrem pessimistisch, was die Verwirklichung dieser Prinzipien im russischen Leben anbelangt. Dennoch wäre es falsch, vorschnell ein Urteil über eine genetische und unüberwindbare Veranlagung Russlands zum Autoritarismus und zur Feindschaft gegenüber dem Westen zu fällen. Theoretisch und faktisch trifft das nicht zu.

Antiwestliche Machtelite

Es stimmt, dass es in Russland Millionen Anhänger des Traditionalismus und Isolationismus sowie ein sehr starkes imperiales Syndrom gibt. Das Problem aber ist vor allem die antiwestliche und antiliberale Haltung der Machtelite. Die westliche Kritik an dem von ihr geschaffenen Regime eines politischen und wirtschaftlichen Monopols schmerzt sie.

Ihre empfindlichen Stellen sind die gigantische Korruption sowie die Konten und die teuren Immobilien im Ausland. Für Mitglieder der Familien der russischen "Elite" ist es normal, im Ausland zu leben und zu studieren, sich in internationalen Ferienorten zu erholen.

Gereizt und ängstlich reagieren diese Leute auf den Erfolg demokratischer Bewegungen und Institutionen in anderen früheren Sowjetrepubliken, weil sie den Bürgern Russlands ein "falsches Beispiel" geben könnten. Ähnlich ängstlich nehmen sie zudem zur Kenntnis, dass Russland in den Augen der Menschen in früheren Teilen des Imperiums seine Anziehungskraft verliert.

Kürzlich haben 73 Prozent der Georgier für einen Nato-Beitritt gestimmt. Russlands Führung reagiert auf diese Dinge mit dem Versuch, die Europäische Union zu spalten. Sie übt Druck auf die Nachbarn aus und greift zu wirtschaftlicher Erpressung.

Konsens über Außenpolitik

Russlands Liberale könnten helfen, die Außenpolitik ausgewogener und weniger konfrontativ zu gestalten. Das bedeutet aber nicht, dass sie die jetzige Außenpolitik in allen Punkten ablehnen.

In Russland herrscht ein breiter Konsens in einer Reihe von außenpolitischen Schlüsselfragen, der auch die Liberalen einschließt. Das gilt zum Beispiel für den Kosovo. Eine übereilte und einseitige Unabhängigkeit des Kosovo verbietet sich aus unserer Sicht, weil sie eine ganze Kette von Problemen nach sich zieht. Staaten werden zerfallen, nicht anerkannte Gebilde werden als Staaten anerkannt werden - auch in Europa.

Ein anderes Beispiel ist die unaufhörliche Erweiterung der Nato. Die Russen sehen darin das Herannahen eines politisch-militärischen Blocks bis an ihre Grenzen, der nicht immer bereit ist, Russlands Argumente zu berücksichtigen und immer öfter in Umgehung der Vereinten Nationen und der OSZE handelt. Wir sind überzeugt, dass ein europäisches Sicherheitssystem nicht ohne vollständige Beteiligung Russlands geschaffen werden kann. Ein passendes Format hierfür muss mit Hochdruck gesucht werden.

Was den KSE-Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa betrifft, so herrscht Einvernehmen über die Notwendigkeit, ihn entsprechend der neuen Gegebenheiten nach dem Zerfall des Warschauer Paktes zu ändern. Dabei wäre es vernünftig, von einer Verringerung der Zahl der konventionellen Waffen in Europa auszugehen.

Wir teilen auch die Sorge über die mögliche Stationierung von Elementen der amerikanischen Raketenabwehr in Europa. Sie kann ein neues atomares Wettrüsten provozieren - und das betrifft nicht nur Russland. Wenn ein solches System geschaffen werden soll, dann nur mit Beteiligung Russlands und auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens.

Alle wesentlichen politischen Kräfte unseres Landes sind von der zentralen Rolle der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates bei der Lösung internationaler Krisen überzeugt. Dort aber muss Russland einen aktiveren und konstruktiveren Dialog mit seinen Partnern führen.

Bedenkt man die dünne Besiedlung Sibiriens und des Fernen Ostens und die erheblichen Risiken im Süden Russlands, so ist die Stärkung freundschaftlicher Beziehungen zu China von prinzipieller Bedeutung. Mit allen Mitteln muss die Stabilität in Zentralasien erhalten werden. Hierbei ist die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) von Nutzen. Die SOZ darf aber kein Block werden, der gegen wen auch immer in der Welt gerichtet ist.

Ziel eines europäischen Sicherheitssystems

Über diese und weitere Punkte herrscht außenpolitischer Konsens in Russland. Und dennoch: Eine offenere, demokratischere Führung würde viele wichtige Akzente anders setzen.

Viele russische Demokraten sind bereit, offen die Frage nach einer mehrstufigen Integration Russlands mit der EU zu stellen - in der ersten Etappe durch einen Assoziationsvertrag. Im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich könnten neue vertrauensbildende Maßnahmen vorgeschlagen werden.

Denkbar sind gemeinsame Produktions- und Forschungsprojekte, ein aktiverer Dialog im Nato-Russland-Rat und im Rahmen des "gemeinsamen Raumes im Bereich der äußeren Sicherheit" mit der EU. Das Ziel muss ein gemeinsames europäisches Sicherheitssystem mit gleichberechtigter Beteiligung Russlands sein.

Anders gestaltet werden muss die Politik Russlands gegenüber der Ukraine, Georgien und Moldawien. Ausgehend von den neuen politischen Realitäten dort, müssen wir versuchen, die Zusammenarbeit wieder zu verstärken.

Den Dialog mit den baltischen Staaten und mit Polen müssen wir wieder in Gang bekommen und dabei offen über die Folgen der kommunistischen Ära in diesen Staaten reden. Das gilt aber auch für die Probleme der nationalen Minderheiten und den Schutz des Andenkens der Soldaten des Zweiten Weltkrieges.

Theoretisch tritt die Führung Russlands für eine engere Zusammenarbeit mit dem Westen ein. Außenminister Sergej Lawrow sprach sich kürzlich für "den Erhalt des gemeinsamen euro-atlantischen Raumes in der globalen Politik durch das Zusammenwirken von USA, Russland und EU" aus.

Die wachsende Kluft zwischen den politischen und wirtschaftlichen Systemen sowie der rapide Vertrauensverlust lassen eine solche Perspektive aber immer nebliger erscheinen. Umso mehr, als auch der Westen bei weitem nicht immer bereit ist, die russische Position zu berücksichtigen.

Einen Teil der Verantwortung für die sich vertiefende Kluft tragen auch Russlands Liberale. Ihre politische Stellung ist so schwach wie nie zuvor. Ein Löwenanteil der Schuld daran trifft sie selber. Jahrelang waren sie unfähig, zusammenzuarbeiten, neue Ideen und neue Führungspersönlichkeiten hervorzubringen, eine gemeinsame Sprache mit den Anhängern zu finden.

Geführt hat das zur Übermacht jener Kräfte, die Russland in den Autoritarismus und Isolationismus treiben. Doch das gilt, wie ich hoffe, nur auf Zeit.

© SZ vom 08.02.2008/bavo - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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