Verbrechen in Haditha:Tod aus amerikanischen Gewehrläufen

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Es gibt zahlreiche Zeugen, die den Racheakt der Marines in Haditha beobachtet haben. Monatelang waren in der Armee Fotos unterdrückt worden. Erinnerungen an das Massaker von My Lai in Vietnam kommen auf.

Christian Wernicke

Noch ist das Land nicht erschüttert. Noch ist Haditha, die irakische Provinzstadt knapp 250 Kilometer nordwestlich von Bagdad, für das amerikanische Volk kein Schreckenswort wie etwa der Name des vietnamesischen Dorfes My Lai.

Dort hatte, vor 38 Jahren, ein US-Platoon ein widerwärtiges Massaker an mehr als 500 Reisbauern, Frauen und Kindern angerichtet - und auch damals hatte es etliche Monate gedauert, ehe die Horrorstory die USA erreichte.

Dann aber brach ein Sturm der Entrüstung los. Das Entsetzen über den Blutrausch der eigenen Soldaten im Dschungel trug massiv dazu bei, dass der Nixon-Regierung in ihrem Indochina-Krieg Ende der sechziger Jahre die Unterstützung an der Heimatfront wegbrach.

Und Haditha hat alles Potenzial, für die Bush-Regierung zum irakischen My Lai zu werden: 24 Zivilisten, unter ihnen sieben Kinder und ein wehrloser Großvater im Rollstuhl, wurden voriges Jahr offenbar Opfer eines Racheaktes amerikanischer Marines. Bisher wagten es nur das Magazin Time sowie große US-Zeitungen wie die Washington Post und die New York Times, ihre Reporter in die 90.000 Einwohner große Stadt am Euphrat zu entsenden.

Der Ort, eine Hochburg sunnitischer Aufständischer, gilt als hoch gefährlich - und seit Kriegsbeginn sind bereits 71 Journalisten im Irak ums Leben gekommen, mehr als Vietnam. Erst am Montag starben zwei Mitarbeiter des Fernsehsenders CBS.

Amerikas TV-Stationen fehlen schlicht die Bilder aus Haditha, weshalb sie sich vorerst auf Schilderungen von US-Soldaten konzentrieren, die beim Blutbad am 19. November 2005 gleichsam zu Opfern zweiten Grades wurden. Einer von ihnen ist Marine-Offizier Roel Ryan Briones.

Ein Mädchen, getötet per Kopfschuss

Der 21 Jahre alte Soldat wurde Stunden nach dem mutmaßlichen Massaker zum Tatort geschickt, um die Leichen der Männer, Frauen und Kinder abzutransportieren. Seit seiner Rückkehr nach Kalifornien zermartern den Mann zwei Bilder: Der zerfetzte Körper seines besten Freundes und Kameraden Miguel "T.J." Terrazas, der bei dem Bombenanschlag auf den US-Konvoi ums Leben kam.

Und das Gesicht eines kleinen Mädchens, getötet per Kopfschuss. Den Leichnam musste er davontragen, Blut und Hirn des Kindes seien auf seine Stiefel getropft. Das traumatisiert Briones bis heute: "Ich werde das nie mehr aus meinem Kopf kriegen. Ich kann noch immer das Blut riechen."

Briones schoss damals mit seiner privaten Digitalkamera Fotos von mindestens 15 der 24 getöteten Zivilisten. Angeblich zogen seine Vorgesetzten sich damals Kopien dieser Beweismittel, aber wo die abblieben, scheint unklar zu sein. Die Originale, so Briones, habe er damals geradezu zwanghaft gelöscht.

Nicht mehr auszulöschen sind hingegen die Berichte jener irakischen Zeugen, die das wahrscheinliche Kriegsverbrechen vom 19. November 2005 überlebten. Trotz mancher Widersprüche im Detail zeichnen die Anwohner der staubigen Haial-Sinnai-Straße von Haditha ein Horrorgemälde.

Demnach rollte an jenem Tag frühmorgens um 7.15 Uhr ein US-Konvoi durch ihr Viertel, als unter dem vierten und letzten Militärfahrzeug eine Bombe explodierte. Corporal Terrazas war sofort tot, zwei seiner Kameraden erlitten schwere Verletzungen. Die übrigen Marines standen unter Schock.

Eine kurze Überprüfung trieb die Marines zu dem Schluss, dass die Bombe aus unmittelbarer Nähe gezündet worden sein musste. Und plötzlich, so erzählte Augenzeuge Aws Fahmi es nun der Washington Post, habe ein US-Soldat zu schießen begonnen. Zusammen mit mehreren Kameraden sei der Marine in das nächste Haus eingedrungen und habe dort zunächst einen 76 Jahre alten Greis im Rollstuhl, und hernach sechs Angehörige mit Gewehrsalven getötet.

Ein Familienvater, der um Gnade flehte

Fahmi berichtet, wie die Soldaten anschließend ins nächste Haus eilten und dort acht Zivilisten - unter ihnen sechs Kinder - regelrecht hinrichteten. Der Familienvater habe in gebrochenem Englisch noch laut um Gnade gefleht: "Ich bin ein Freund, ich bin gut." Als Antwort habe er jedoch nur Schüsse gehört. Die nächsten Opfer, so die Aussage mehrerer Nachbarn, seien vier Brüder gewesen.

Den Männern wurde offenbar zum Verhängnis, dass ein US-Soldat ein Gewehr im Haus aufstöberte. Widersprüchlich hingegen sind die Schilderungen, wann und wie genau jene fünf weiteren Männer ums Leben kamen, welche die Marines auf der Straße in einem Taxi stellten.

Auch wenn es bei diesen Zeugenaussagen noch Widersprüche im Detail gibt - eindeutig ist, dass am 19. November 24 irakische Zivilisten von Kugeln aus amerikanischen Gewehrläufen getötet wurden. Und dass die Vorgesetzten der Marines zunächst versuchten, den Vorfall unter der Decke zu halten. Den Tätern droht nun eine Anklage wegen Mordes, ihren Offizieren ein Verfahren wegen Behinderung der Militärjustiz. Und George W. Bush muss bangen, dass Haditha ein zweites My Lai wird. Sein My Lai.

© SZ vom 1.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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