Venedig und das Hochwasser:Und Mose soll die Wasser teilen

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Auf Holzpfählen erbaut, versinkt Venedig unter der eigenen Last im Meer. Ein Großprojekt soll jetzt die Lagune schützen - doch es gibt Streit.

Von Henning Klüver

"Festhalten!", ruft Michele und dreht auf Vollgas. Das kleine Boot schießt aus der Bucht vor dem Canal Grande heraus und nimmt Kurs auf die Isola del Lido. Wir knallen über querlaufende Wellen von Lastkähnen und Fährschiffen hinweg, als ginge es mit 180 über eine Autobahn voller Schlaglöcher.

Ein Spaß für Touristen, eine Gefahr für die Stadt: Hochwasser in Venedigs Innenstadt. (Foto: Foto: dpa)

Michele, Bootsführer beim Consorzio Venezia Nuova, lacht, das Boot macht einen Riesensatz und klatscht wieder aufs Lagunenwasser. Das Consorzio ist eine Privateinrichtung, die seit mehr als zehn Jahren für das Wasserbauamt in Venedig und in der Lagune alle Arbeiten ausführt.

Und einer wie Michele kennt die Wasserlandschaft zwischen Festland und Lido wie seine Westentasche. Jetzt hat das Consorzio einen ganz großen Auftrag an der Angel. Das Projekt "Mose" für 3,7 Milliarden Euro, das im wahrsten Sinne des Wortes die Abschottung der Lagune bei extremen Hochwassern in der Adria ermöglichen soll.

"Modello Sperimentale Elettromeccanico"

Mose klingt auf Italienisch genauso wie der biblische Moses, doch steht es als Abkürzung für "Modello Sperimentale Elettromeccanico" - elektrotechnisches Versuchsmodell.

Ein System von 78 aufklappbaren bis zu 350 Tonnen schweren Barrieren, die am Grund der drei Adriazuflüsse der Lagune (Bocca di Lido, Bocca di Malamocco und Bocca di Chioggia) verankert werden sollen.

Wassergefüllte Stahltanks, die fünf Meter dick, zwanzig Meter breit und bis zu dreißig Meter lang bei normalem Pegelstand unsichtbar in Betonverankerung ruhen sollen. Wenn man aber das Wasser mit Luftdruck aus den Tanks treibt, dann richten diese sich auf, ragen über die Meeresoberfläche und dichten die Lagune ab.

Geplant ist der Einsatz bei Hochwassern von mehr als 110 Zentimetern über Normalnull. In den vergangenen 100 Jahren ist das auf Holzpfählen in schlammigem Untergrund errichtete Venedig unter der eigenen Last um 23 Zentimeter abgesunken, zugleich stieg der Meeresspiegel der Adria um zwölf Zentimeter.

Die Plage kommt im November

Acqua alta, Hochwasser, plagt die Lagunenstadt Jahr für Jahr mehr - besonders zwischen November und März. Seit 1993 gab es mehr als 50 Hochwasser, bei denen der Pegel weit höher schwappte als die kritische Höhe von 110 Zentimetern über NN.

Früher stand dann nur ein kleiner Teil von San Marco unter Wasser, inzwischen melden fast alle Viertel der Altstadt Land unter. Mit vielen Unannehmlichkeiten für die Einwohner, für die Betriebe und vor allem für Touristen, die Venedig zu jeder Jahreszeit überspülen und bei Hochwasser nasse Füsse holen.

Damit soll Schluss sein. Michele hat inzwischen bei der Bocca di Lido beigedreht, und mit etwas weichen Knien klettern wir auf ein Arbeits-Ponton, hinter dem ein kleiner Ausweichhafen entsteht. Ehe das Barrieresystem errichtet werden kann, müssen noch Molen verlängert, Wellenbrecher angelegt und Nothäfen gebaut werden.

Zu sehen ist eine eher unspektakuläre Baustelle, die allein die Anwohner an der Nordspitze des Lido stört und Touristen vertrieben hat. Auch prüft man noch Methoden zur Versenkung von Stützpfeilern - rund 12 000 Stück sind geplant - für die Verankerungen der Fluttanks.

Noch öfter nasse Füße

In etwa sechs Jahren könnten alle Arbeiten und flankierenden Maßnahmen, wie die Erhöhung der Uferanlagen vor San Marco, beendet sein. Wenn es keine Verzögerungen gibt.

Denn nicht nur die langen Fristen haben Gegner auf den Plan gerufen. Seit zwei Jahrzehnten ringt man in unzähligen Kommissionen um Sinn oder Unsinn eines Systems, das von Ende der siebziger Jahre stammt und das viele Fachleute für veraltet und überteuert halten.

Wer diese Fachleute kennen lernen will, kommt leicht auf Abwege. Hinter dem Bahnhof führt die Calle Priuli in ein kleines Viertel mit Neubauten, in das sich Touristen selten verlaufen, weil hier die Stadt ganz unvenezianisch zeitgenössisch wirkt. Rote Betonhäuser, keine einzige Bar, kein Geschäft, keine Souvenirverkäufer.

Hier ist eine Vertretung des italienischen Umweltministeriums untergebracht. Zu ihr gehört der Architekt und Urbanist Stefano Boato, der noch vor der Berlusconi-Ära von der damaligen Mitte-Links-Regierung nominiert wurde und jederzeit mit seiner Abberufung rechnet.

Die Kritiker von der Universität

Denn er ist Gegner von Mose, das als einziges Vorhaben einer Reihe großspurig angekündigter Mammutprojekte der Berlusconi-Regierung (wie die Brücke über den Golf von Messina) gegenwärtig realisiert wird.

Vermutlich, weil es aus der Zeit vor Berlusconi stammt. Boato und ähnliche denkende Kritiker der Universität Venedig versuchen es dennoch zu stoppen. Warum?

Die Stadt der Gondeln kämpft gegen das Meer. (Foto: Foto: AP)

Um die Mose-Barrieren zu verankern, sollen die Laguneneinfahrten, die jetzt auf dem Grund unregelmäßig eine Art V-Form haben, alle horizontal schnurgerade ausgebaggert werden, dabei würden rund acht Millionen Kubikmeter Boden bewegt werden. Und statt den Zufluss des Meeres zu verringern, würde er sogar erhöht.

Mit Folgen für das ökologische Gleichgewicht der Lagune - und für die "normalen" Hochwasser bis zu 110 Zentimetern über NN. Venedig, sagt Boato, werde durch Mose häufiger nasse Füße bekommen als bisher, denn die Barriere werde nur die acht bis zehn großen Überschwemmungen im Winterhalbjahr verhindern.

Das sei der Grundfehler eines Systems, das mit ungeheurem Materialeinsatz wie den Betonverankerungen irreversible Folgen für das Ökosystem hätte. Die Überwachung der Anlage unter Wasser, der Pumpwerke und der Stromversorgung jeder der 78Barrieren sei dazu ungeheuer aufwendig.

Späte Alternativen

Gibt es Alternativen? Sie wurden spät entwickelt. Eine leichtere Variante ist das Projekt "Arca", bei dem die Sperrkörper in der Winterperiode in die Lagunenzufahrten geschleppt und wie Bausteine versetzt werden können und so den Schiffsverkehr nicht stören.

Etwas komplexer als Arca ist die Variante der Meerestechnologen Vincenzo Di Tella, Paolo Vielmo und Gaetano Sebastiani. Diese Variante geht ähnlich wie bei Mose von einer Verankerung der Barrieren aus, verzichtet aber auf die Begradigung des Meeresbodens und nutzt ein einfacheres Pumpsystem. Beide Versionen würden nur einen Bruchteil der fast vier Milliarden Euro von Mose kosten.

Warum werden sie nicht umgesetzt? Weil sich das Consorzio, so die Kritiker, nicht seinen finanziellen Kuchen zerschneiden lassen möchte. Der Landschaftsarchitekt Andreas Kipar (Mailand/Duisburg), der unter anderem in der Lagune an einem großen Sanierungsprojekt ehemaliger Industriezonen arbeitet und dort rund 2000 Hektar Wald wachsen lässt, nennt Mose nur wegen der Folgekosten (über 100 Millionen Euro jährlich) "reinen Wahnsinn".

Flavia Faccioli, Sprecherin des Consorzio Venezia Nuova, glaubt jedoch, dass die Zeit für sie arbeite. Nach und nach würden die Venezianer den Nutzen des Systems erkennen. Klagen und Einsprüche von Umweltschützern hätten die Gerichte verworfen.

Außerdem, so hält sie Kritikern vor, habe Venedig in seiner Geschichte stets die zur entsprechenden Zeit neuesten Techniken genutzt. Mose sei nichts anderes als ein "großartiges Restaurierungsprojekt der Lagune".

Bremsversuche der Umweltschützer

Als würde man in ein Haus, das man gerade erneuert habe, "Türen einhängen, um es gegen Angriffe von außen zu schützen und die Intimität des Inneren zu respektieren".

Als vor zwei Jahren das Mammutprojekt genehmigt wurde, sagte man auch das Verstummen der Kritik voraus. Der damalige Bürgermeister Paolo Costa hatte in einer entscheidenden Abstimmung auf Regierungsebene für Mose votiert, obschon sein Gemeinderat dagegen gestimmt hatte. Costa wollte mit Vollgas die Zukunft ansteuern.

Die Bremsversuche der Umweltschützer und der Lokalpolitiker glaubte er ignorieren zu können. Der neue Bürgermeister Massimo Cacciari, der in den neunziger Jahren das Amt schon einmal ausgeübt hatte, zeigt sich zurückhaltend. Man weiß, dass der Philosophieprofessor eigentlich ein Mose-Gegner ist.

Andererseits fließt mit der Mose-Finanzierung viel Geld in die Stadt. Wird Cacciari versuchen, das Projekt dennoch zu stoppen? Wer mit ihm darüber reden will, wird freundlich an den Vizebürgermeister verwiesen, der für die Umsetzung des Spezialgesetzes zuständig ist, mit dem Mose finanziert wird.

Der zweite Bürgermeister wiederum lässt ebenso freundlich wissen, dass sich doch wegen der politischen Bedeutung der erste Bürgermeister selbst äußern möchte.

Autonome Besetzer

Offiziell hält man sich bedeckt, doch es ist durchgesickert, dass Massimo Cacciari mit den Bürgermeistern der Anrainergemeinden Chioggia und Cavallino in einem Brief Verkehrsminister Pietro Lunardi in Rom zum Abbruch der Arbeiten an Mose aufgefordert hat.

Sie seien wissenschaftlich umstritten und zudem rechtswidrig, weil sie den Bebauungsplänen der drei Kommunen widersprechen würden. Die Mose-Gegner wittern also Oberwasser.

Ende Juni besuchte Minister Lunardi Venedig, um sich über die Arbeiten zu informieren. Während Michele und seine Kollegen die hohen Gäste zu den Baustellen schipperten, besetzten autonome Gruppen das Wasserbauamt nahe der Rialto-Brücke.

Erst nach Stunden konnte die Polizei die Demonstranten, die mit Schreibtischen die Bürotüren von innen blockiert hatten, aus dem Gebäude vertreiben. Ihr Sprecher Luca Casarin, ein landesweit bekannter Globalisierungsgegner, kommentierte erbost:

"Diejenigen, die protestieren, werden kriminalisiert. Diejenigen, die die Lagune zerstören, überschüttet man mit Geld." Beim Consorzio Nuova Venezia glaubt man weiter an das Projekt: Wer protestiert, solle sich vorher besser informieren. Die Arbeiten an Mose gingen weiter. Aber ob man so mit Vollgas die Zukunft ansteuern kann, wie Michele die Einfahrt zum Canal Grande?

© SZ vom 26.7.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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