US-Protestforscher Howard Zinn:Süchtig nach Krieg

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Nur ziviler Widerstand kann in den USA noch zu Veränderungen führen. Meint zumindest der amerikanische Protestforscher Howard Zinn. Er kritisiert die politischen Strukturen seines Landes.

Interview: Jörg Häntzschel

Spätestens seit seinem 1980 erschienenen Buch "A People's History of the United States" ist der 85-jährige Historiker und Politikwissenschaftler Howard Zinn einer der prominentesten Vertreter der amerikanischen Linken. Unter dem Titel "Eine Geschichte des amerikanischen Volkes" ist der Band jetzt erstmals in deutscher Übersetzung erschienen (Verlag Schwarzerfreitag).

Ein demonstrierender Kriegsgegner schreit bei einer Demonstration im September in Washington einen Polizisten an. (Foto: Foto: AFP)

SZ: Ihr Buch "Eine Geschichte des amerikanischen Volkes" entstand aus dem Geist der Bürgerrechtsbewegung. Damals war klar, wer die Unterdrückten sind. Heute ist das Bild diffuser. Wer sind die "Negroes" im Jahr 2007?

Howard Zinn: Die Immigranten, die Armen, die Verlorenen, Schwarze in New Orleans. Arbeiter, die ihre Jobs verloren haben, die 40 Millionen ohne Krankenversicherung. Es gibt eine riesige Zahl von Menschen, die vom Reichtum dieses sehr reichen Landes nicht profitieren.

SZ: Und trotzdem haben viele von ihnen den Republikaner Bush gewählt.

Zinn: Das stimmt. Andererseits hat Bush die Wahl 2000, vielleicht auch die 2004 ja gar nicht gewonnen. Und die Hälfte der Amerikaner, vor allem die Armen, wählt ohnehin überhaupt nicht. Sie sagen: Für unser Leben spielt es keine Rolle, wer Präsident ist. Ich will diesen Leuten eine Stimme geben. Und denen, die das System bekämpfen: in der Antikriegsbewegung, der Umweltbewegung, der Immigrantenbewegung. Mein Buch behandelt Protest- und Widerstandsbewegungen, und die gibt es auch heute.

SZ: Es gab Zeiten, als die Ausgeschlossenen sich sehr bewusst dafür engagierten, gehört zu werden. Heute scheinen sie es nicht einmal mehr zu versuchen.

Zinn: Das Gefühl von Machtlosigkeit und Hoffnungslosigkeit ist stärker geworden. Die Leute stehen dieser riesigen Maschine gegenüber, haben keinen Zugang zu den Medien, fühlen sich abgeschnitten von politischer Repräsentation. Das heißt aber nicht, dass sie nichts mitbekommen. Als Bush den Krieg begann, waren 75 Prozent dafür, heute sind es 30 Prozent. Die Leute verfolgen sehr genau, was passiert, nur hat das noch nicht, wie in den sechziger Jahren, zu politischen Aktionen geführt.

SZ: Aber der Krieg läuft jetzt schon seit fünf Jahren. Und er erscheint noch sinnloser als der Vietnamkrieg.

Zinn: Für Europäer mag das auf der Hand liegen. Sie bekommen ihre Nachrichten nicht von CNN oder NBC, sondern von unabhängigeren Quellen.

SZ: Auch CNN und NBC haben darauf hingewiesen, dass es keine Verbindung zwischen Saddam Hussein und al-Qaida gab. Es wurde nicht verheimlicht.

Zinn: 70 Prozent haben es ja auch verstanden. In den USA gibt es immer 30 Prozent, die es nicht verstehen werden. Es ist der harte Kern des reaktionären Amerika. Während des Vietnamkriegs war es auch schon so. Am Anfang unterstützten ihn zwei Drittel aller US-Bürger. Drei Jahre später waren zwei Drittel dagegen. Noch heute glaubt ein Drittel, dass wir die Kommunisten bekämpfen mussten. Bei diesem Drittel ist nichts zu machen. Mit dem Drittel in der Mitte können Sie reden. Dieses Drittel muss die amerikanische Linke erreichen.

SZ: Woher kommt die Passivität des mittleren Drittels? Selbst wenn der Krieg fern erscheint: Die Realität der vielen hundert Milliarden Steuergelder, die dafür ausgegeben werden, muss doch beunruhigen?

Zinn: Ich wünschte, die Amerikaner wären sich dieser Zusammenhänge so bewusst. Oft sind sie es nicht. Die Medien versagen. Die Geschichtskenntnisse, die in den Schulen vermittelt werden, sind miserabel. Und wer, wie die meisten, die Geschichte des Vietnamkriegs nicht kennt, dem kann man diesen Krieg leicht verkaufen. Das Fernsehen dient nur noch der Unterhaltung, es ist zu einer gefährlichen Ablenkung für viele Amerikaner geworden und korrumpiert die gesamte Kultur. Studenten lesen heute keine Zeitungen mehr, sie sehen fern.

SZ: Was lässt sich also tun?

Zinn: Da die politischen Strukturen undemokratisch sind, Geld die entscheidende Rolle spielt und unabhängige Kandidaten keine Chance haben, kann nur Protest und ziviler Ungehorsam zu Veränderungen führen. Damals in den Südstaaten hatten die Schwarzen keine Stimme. Sie gingen auf die Straße, erzeugten Druck, und die Dinge änderten sich.

SZ: Heute könnte die Lage friedlicher nicht sein.

Zinn: Aber die Schwarzen werden nach wie vor am schlimmsten ausgebeutet. Sie haben den größten Anteil der Inhaftierten, die höchste Kindersterblichkeit, sie sind die Ärmsten und am meisten Vernachlässigsten von allen. Und sie haben keine starke politische Führung. Eines der Hauptprobleme der amerikanischen Linken ist, dass sie keine prominenten Personen hat, die sie mobilisieren und organisieren könnte. Keiner der bekannten Demokraten ist an fundamentalen Veränderungen interessiert.

SZ: Was halten Sie von den demokratischen Präsidentschaftskandidaten? Zinn: Al Gore wäre der beste, aber er wird wohl nicht kandidieren. Danach kommt John Edwards. Barack Obama ist viel zu vorsichtig. Er spielt das politische Spiel. Im Fall Iran sagt er zum Beispiel: "Wir müssen uns alle Optionen offen halten, einschließlich die eines Kriegs." Das ist lachhaft. Aber natürlich ist er immer noch besser als Hillary Clinton.

SZ: Während des Vietnamkriegs forderten Sie den Abzug amerikanischer Truppen. Was sollte jetzt im Irak passieren.

Zinn: Ich habe genau dieselbe Position. Wir sollten unsere Truppen so schnell wie möglich nach Hause schicken. Das führe zu Chaos und Gewalt, heißt es. Doch Chaos und Gewalt herrschen schon jetzt, und nicht zuletzt wegen unserer Anwesenheit. Wir sollten es den arabischen Ländern überlassen, zwischen den Sunniten, Kurden und Schiiten zu vermitteln. Je früher wir gehen, desto weniger Menschen werden sterben.

SZ: In den Jahrzehnten nach dem Vietnamkrieg hieß es immer, Amerika akzeptiere keine toten GIs. Der "virtuelle" erste Golfkrieg, das schien die Zukunft zu sein. Heute kann man in Amerika täglich die Namen von toten Soldaten in der Zeitunglesen. Und es ist okay.

Zinn: Es ist nicht okay. Nur dauert es, bis die Öffentlichkeit reagiert. Schließlich hat sich die Meinung zum Krieg ja auch gewandelt. Abgesehen davon, wurde die Realität dieser toten Soldaten sorgfältig versteckt.

SZ: Sie haben sich intensiv mit den ethischen und moralischen Fragen des Tötens im Krieg beschäftigt. Warum redet in diesem Krieg niemand darüber? Menschen zu erschießen wird oft als ein Job dargestellt. Früher war es ein moralisches Problem, heute ist es ein Gesundheitsproblem. Wer im Bergwerk arbeitet, hat vielleicht Probleme mit den Lungen, die Soldaten leiden eben am posttraumatischem Stresssyndrom.

Zinn: Vielleicht leidet das ganze Land an posttraumatischem Stress. Nein, es gibt keine Debatte darüber. Wir sind süchtig nach Krieg, Gewalt und Fernsehen geworden.

SZ: Aber was ist mit der fast schwindelerregenden Lebendigkeit in der Kunst, der Literatur, der Musik in den USA? Mit der Presse, die trotz ihres Versagens in den letzten Jahren um ein Vielfaches interessanter und selbstbewusster ist als etwa die in Deutschland. Es ist doch unglaublich viel da!

Zinn: Die Medien hier haben vier Jahre lang für den Krieg getrommelt! Das hat sich erst seit kurzem geändert.

SZ: Lieben Sie Amerika eigentlich noch, Mr. Zinn?

Zinn: Nicht die Regierung. Aber die Amerikaner. Ich glaube fest an ihre Güte und Vernunft. Sie wollen Frieden, sie wollen gute Dinge für die Welt tun.

Bevor Howard Zinn an der New Yorker Columbia University Geschichte und Politikwissenschaft studierte, war er als Bomberpilot Ende des Zweiten Weltkriegs an einem der ersten Napalm-Einsätze beteiligt. Heute ist er emeritierter Politologie-Professor der Boston University. Sein 1980 erschienenes Hauptwerk "A People's History of the United States" beschreibt die Geschichte Amerikas aus der Perspektive der Minderheiten, Armen und Unterdrückten. Es hat in den USA den Klassikerstatus und wird jedes Jahr über 100.000-mal verkauft.

© SZ vom 17.12.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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