US-Attentäter:Die netten jungen Männer von nebenan

Lesezeit: 5 min

Attentäter von New York und Washington lebten bis zu den Anschlägen völlig unauffällig

Stefan Ulrich

(SZ vom 17.09.2001) - Sie scheuten das Licht nicht. Die 19 jungen Männer kamen mit offenem Visier ins Land, mit ordentlichen Papieren, sogar mit Visa. Sie stellten sich als Studenten, Piloten oder Mechaniker vor und lebten Tür an Tür mit amerikanischen oder deutschen Nachbarn - friedlich, freundlich, unauffällig. Manche waren Singles, andere hatten Familien mit bis zu vier Kindern, die mit Mädchen und Jungen in der Nachbarschaft spielten. Einige lebten wie gläubige Muslime, fromm, doch ohne Eifer oder gar Fanatismus. Andere führten das Leben des Westens, gingen in Discos, tranken Alkohol. Dann verschwanden sie plötzlich, um am 11.September wieder aufzutauchen: über New York und Washington.

Männer mit Manieren

Sechs Tage nach dem Desaster wird das Profil der Täter immer klarer - und immer überraschender. Es sind keine zotteligen Gotteskrieger mit Vollbart und finsterer Miene, die Amerika in die Katastrophe gestürzt haben, sondern Männer mit Manieren, die sich geschickt in der modernen Gesellschaft bewegten. Sie kleideten sich wie Geschäftsleute, buchten im Internet, reisten erster Klasse, übernachteten in großen Hotels und achteten nicht auf die Kosten. Manche lebten über Jahre das Leben von Einwanderern, die sich erfolgreich auf die neue Welt eingelassen hatten. Doch dann wurden sie zu freien Radikalen, die die Symbole dieser Welt zerstörten.

Die Fahnder haben in kurzer Zeit unzählige Informationen zusammengetragen über die Kamikaze-Piloten und ihre Hintermänner. Sie sind ausgeschwärmt und haben ihre Spuren zurückverfolgt, die Spuren von Wochen, Monaten und Jahren. Dutzende Hotels und Wohnungen hat die US-Bundespolizei FBI durchsucht; sie hat Hunderte mögliche Zeugen befragt - Vermieter der Täter, ihre Bekannten und Nachbarn, Hotelangestellte, Flugpassagiere. Alles, womit die Terroristen in letzter Zeit in Berührung kamen, wurde als Beweismittel abtransportiert; sogar Wartesitze im Bostoner Flughafen.

12000 Fotos von den Tatorten wurden geschossen, mehr als 40000 Hinweise aus der Bevölkerung aufgenommen. In der Nähe des zerstörten World-Trade-Centers wurde der Pass eines der Boeing-Entführer gefunden. Und täglich gehen Tausende weitere Anrufe und e-mails bei den Behörden ein.

Ganz konkret suchen die US-Ermittler derzeit nach etwa 100 Menschen, von denen sie sich entscheidende Informationen erhoffen. 25 Verdächtige haben sie festgesetzt, meist wegen ungültiger Aufenthaltspapiere. Das Justizministerium erließ gegen zwei Männer Haftbefehl, die an einem New Yorker Flughafen und in New Jersey aufgegriffen wurden. Sie werden als "wichtige Zeugen" bezeichnet und gelten als Tatverdächtige. Auch in Belgien wurden Haftbefehle gegen zwei Männer erlassen. Der eine soll einen Anschlag auf die US-Botschaft in Paris geplant haben.

Einer der Attentäter studierte Stadtplanung

Unter all den Informationen ist viel Ballast und manche heiße Spur. Eine führt nach Deutschland. Dort lebten einmal zwei Freunde. Sie galten als unzertrennlich, gaben sich strebsam und gesetzestreu. Mohammed Atta und Marwan Al-Shehhi wohnten jahrelang in einer Wohngemeinschaft in Hamburg. An der Technischen Hochschule studierten sie. Atta war ein besonders guter Student, ein Professor schildert ihn als intelligent und liebenswürdig. Das Fach des späteren Zerstörers von Manhattan: Stadtplanung.

Außer in Deutschland wird jetzt auch in Spanien gegen ihn ermittelt. Und in der Schweiz wird ebenfalls geprüft, ob sich einer der Attentäter aus Hamburg dort aufgehalten hat.

Sicher ist, dass Atta und Shehhi vor einiger Zeit nach Florida zogen, um dort eine der vielen Flugschulen zu besuchen. 38000 Dollar zahlten sie für den Unterricht in Venice. Sie gaben sich als Cousins aus und bezogen ein Zimmer mit Doppelbett. Die Vermieter empfanden die beiden als etwas arrogant, schöpften aber keinen Verdacht. "Wir konnten nicht glauben, womit uns das FBI gestern konfrontierte", sagen sie. "Wir konnten nicht glauben, dass sie in unserem Haus waren."

Scharfe Wendemanöver geübt

Atta und Shehhi ließen sich 260 Stunden lang zu Piloten ausbilden. Später trainierten sie an einem Flugsimulator. Vor allem scharfe Wendemanöver übten sie. Ende August zogen die vermeintlichen Cousins in ein Motel in Deerfield Beach. "Sie waren ordentlich und freundlich", erinnert sich der Eigentümer. Eines fiel ihm auf: Die Männer hatten in ihrem Zimmer ein Bild mit einem Handtuch verhängt, das eine Frau mit nackter Schulter zeigte. Als die Gäste auszogen, fand er im Abfall Luftkarten und Lernmaterial für Flugschüler. Darunter waren Informationen zum Thema: Wie fliege ich ein Boeing-Passagierflugzeug.

Am Freitag vor den Anschlägen wurden Atta und Shehhi in einer Bar beobachtet. Sie tranken stundenlang, auch Rum und Wodka, oder spielten Video-Spiele. Nervös seien sie gewesen, meint der Geschäftsführer. "Sie gestikulierten viel, und Shehhi war ersichtlich aufgeregt."

Am Morgen des 11.September trennten sich die Wege der Unzertrennlichen. An Bord zweier Boeings rasten sie in die Zwillingstürme des World Trade Centers. Aus den unauffälligen jungen Männern waren Terroristen geworden.

Die Berichte über andere Kamikaze-Flieger ähneln sich. Die Männer - sie stammen aus Saudi Arabien, der Heimat Osama bin Ladens, oder aus den Vereinigten Arabischen Emiraten - ließen sich in Florida zu Piloten ausbilden. Sie lebten so normal wie möglich und so konspirativ wie nötig. Manchmal änderten sie Wohnort und Namen. Und stets versuchten sie, wenig Spuren zu hinterlassen. Absprachen trafen sie am liebsten persönlich, nicht via Telefon oder Internet.

Einer von ihnen war Abdulaziz Alomari, der später mit Atta ins World Trade Center flog. Er lebte mit Frau und Sohn in Vero Beach in Florida. 1400 Dollar im Monat zahlte er für ein hübsches Haus. Der Sohn spielte mit den Nachbarkindern, die Eltern waren freundlich-zurückhaltend. Nur eines störte die Anwohner: die nächtlichen Treffen bei den Alomaris. Bis zu zwölf Autos standen manchmal vor der Tür. Im August verabschiedeten sich die Araber und gaben ein Fest für die Nachbarkinder. "Sie luden alle ein, sogar solche, die sie nie zuvor getroffen hatten", erinnert sich einer. Es gab Pizza. Alomaris Frau sagte den Nachbarn, in ihrer Heimat sei es Brauch, eine Party zu geben, bevor man fort ziehe. So bleibe man in guter Erinnerung.

Sanftmütig und scheu

Weniger Eindruck hat ein anderer der mutmaßlichen Terroristen hinterlassen. Der Student Ziad Jarrah studierte in Hamburg Flugzeugbau. Hin und wieder besuchte er seine Freundin, eine türkische Medizinstudentin in Bochum, mit der er nach islamischem Recht sogar verheiratet gewesen sein soll. In dem Appartementhaus in der Stiepeler Straße erinnert man sich kaum an Jarrah, auch wenn sein Name noch an der Tür steht. Zu viele gingen in diesem Haus in der Nähe der Ruhr-Universität ein und aus.

Die junge Türkin hatte Jarrah vergangene Woche als vermisst gemeldet. Schnell fand die Polizei heraus, dass sein Name auf der Passagierliste des Jets stand, der bei Pittsburgh abgestürzt war. Die Freundin sagte nun aus, sie habe nichts von den Plänen Jarrahs gewusst. Sie habe sich nur gewundert, als er sich plötzlich für Fliegerei interessierte. In einem Koffer fanden die Fahnder laut Generalbundesanwalt Kay Nehm "Flugzeug bezogene Unterlagen". Kontakte Jarrahs zu Osama bin Laden seien bisher nicht nachzuweisen, sagte Nehm.

Jarrah stammt aus einer wohlhabenden, gebildeten Familie im Libanon. Verwandte erzählten dem Sender CNN, der junge Mann habe einige Zeit in Afghanistan verbracht, wo der Terror-Pate bin Laden haust. Der Vater beschreibt seinen Sohn als sanftmütig und scheu. Ein Onkel sagt, Jarrah habe nichts Radikales an sich gehabt. Er sei gerne in Discotheken gegangen. Noch kurz vor dem Attentat habe der Flugschüler seine Familie aus Amerika angerufen und sich für die Unterstützung beim Studium bedankt. Er, der Onkel, könne sich überhaupt nicht vorstellen, dass sein Neffe ein islamistischer Terrorist gewesen sei.

Das Klischee vom bärtigen Muslim-Terroristen

Auch im Westen wird man umdenken müssen. Zwar sagt US-Justizminister John Ashcroft: "Wir fangen an zu verstehen, wie dieses schreckliche Verbrechen begangen wurde." Aber das Verständnis von der Psyche der neuen Terror-Generation dürfte eher noch schwieriger geworden sein. Sind das Meta-Terroristen, die ihre islamischen Ideale verleugnen und über Jahre ein fremdes Leben führen, um in perfekter Tarnung ihre mörderische Glaubensmission zu erfüllen? Oder ist es gar nicht so sehr ein pervertierter Glaube, der diese Männer antreibt? Und was ist es dann?

Nur eines ist klar: Auch das Klischee vom bärtigen Muslim-Terroristen wurde am Dienstag zerstört.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: