Türkei:Kopftuch als Waffe

Lesezeit: 3 min

Die Begründung des Urteils zum Kopftuchverbot hat in der Türkei eine hitzige Debatte über die Rolle des Verfassungsgerichts ausgelöst.

Kai Strittmatter

Das türkische Verfassungsgericht, schreibt der Kritiker, habe selbst gegen die Verfassung verstoßen und de facto das Parlament entmachtet. Harte Worte, die noch bemerkenswerter wirken, wenn man bedenkt, wer ihr Autor ist: Hasim Kilic - der Präsident des Gerichtes.

Mein Kopf gehört mir: Frauen in Ankara protestieren gegend as Kopftuchurteil (Foto: Foto: AFP)

In der Türkei ist eine hitzige Debatte über die Rolle des Verfassungsgerichtes ausgebrochen. Erneut geht es um das vom Gericht erst im Juni bestätigte Kopftuchverbot an Universitäten, der Streit berührt aber die Grundpfeiler der türkischen Demokratie.

Regierung und Parlament hatten mehr als drei Monate auf die Urteilsbegründung zum Kopftuchverbot gewartet, und als sie am Mittwoch kam, da sahen die Regierung, aber auch liberale Verfassungsrechtler ihre Befürchtungen bestätigt: Das Verfassungsgericht, so die Kritik, habe ein politisches, kein juristisches Urteil gefällt.

Schützenhilfe kam von Gerichtspräsident Kilic, der von seinen Kollegen überstimmt worden war. Er schreibt in seinem am Mittwoch veröffentlichten, abweichenden Votum: "Das Gericht hat seine Befugnisse überschritten und gegen die Verfassung seinen Willen über den Willen der Legislative gestellt."

Einzig die oppositionelle CHP und die ihr nahestehende Presse begrüßte die Urteilsbegründung der Richermehrheit als Sieg für den säkularen Staat. "Wer nicht verstehen will, der wird zum Verstehen gebracht", kommentiert die Zeitung Hürriyet, traditionell die Stimme des kemalistischen und armeenahe Lagers.

Premier Tayyip Erdogan sagte, auch das Verfassungsgericht stehe nicht über der Verfassung. Auch Bürgerrechtler kritisierten die Richter scharf: "Das ist ein Urteil gegen die Menschenrechte", sagte Hüsnü Öndül vom Menschenrechtsverein in Ankara. Kein europäisches Land hat so strenge Kopftuchgesetze wie die Türkei, wenn auch erst seit dem Militärputsch von 1980.

Das Verbot an den Unis wurde mal mehr und mal weniger streng durchgesetzt und geriet erst mit dem Machtantritt der konservativen AKP 2002 wieder in den Mittelpunkt des politischen Streits: Das kemalistische - also weltliche - Lager, das bis dahin die Türkei regiert hatte, wirft der AKP die heimliche Islamisierung der Türkei vor.

Die AKP sagt, sie bekenne sich zum säkularen Staat und wenn sie die Freigabe von Kopftüchern an den Universitäten wolle, trete sie lediglich für individuelle Freiheitsrechte und für das Recht auf Bildung für alle Bürger ein - eine Argumentation, der sich längst auch die nichtreligiösen Liberalen im Lande anschließen.

Im Februar 2008 verabschiedeten die regierende AKP und die oppositionelle MHP gemeinsam die Änderung zweier Verfassungsartikel, die auch bedeckten Studentinnen das Studium erlauben sollten. Das Wort Kopftuch kommt in den Änderungen nicht vor. Der geänderte Artikel 10 hielt fest, dass der Staat bei "öffentlichen Dienstleistungen" alle Bürger gleich behandeln müsse. Artikel 42 sollte es verbieten, Bürgern das Recht auf Erziehung vorzuenthalten "solange die Gründe nicht ausdrücklich in Gesetzen festgehalten sind".

So moderat formuliert der Reformvorstoß war, so groß war der Wirbel, der folgte: Es kam eine erste Klage beim Verfassungsgericht, die zur Annullierung der Reform führte. Und eine zweite, in welcher der Staatsanwalt das Verbot der regierenden AKP verlangte, weil sie angeblich die Scharia in der Türkei einführen wolle. Das AKP-Verbot wurde Ende Juli denkbar knapp abgelehnt. Aber wie sich nun zeigt, fesseln die Richter schon mit dem Kopftuchurteil der AKP beide Hände.

Warnung vor der "Juristokratie"

Eigentlich ist in der Türkei das Parlament das verfassungsgebende Organ. Das Gericht darf Verfassungsänderungen nur dann ablehnen, wenn bestimmte Formalien oder Prozeduren nicht eingehalten wurden. Die nun veröffentlichte Urteilsbegründung aber argumentiert offen ideologisch: "Das Kopftuch ist mit säkularer Wissenschaft unvereinbar", heißt es da zum Beispiel.

"Eine solche Urteilsbegründung wäre in jeder westlichen Demokratie inakzeptabel", meint Ergun Özbudun, der bekannteste Verfassungsrechtler der Türkei. "Das Gericht stellt sich über den Verfassungsgeber." Özbudun warnt vor einer "Juristokratie", der Herrschaft offen politischer Richter, und fordert: "Es muss eine neue Verfassung her."

Der liberale Jurist Özbudun selbst war von der regierenden AKP im letzten Jahr mit dem Entwurf einer neuen Verfassung beauftragt worden, welche die heutige ablösen sollte, die noch immer Erbe des Militärputsches von 1980 ist. Der Entwurf verschwand aber in der Schublade. Die liberale Zeitung Taraf druckte am Donnerstag auf der Titelseite ein Foto des leeren Parlamentssaales und darüber die Schlagzeile: "Bis zur neuen Verfassung geschlossen."

© SZ vom 24.10.2008/aho - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: