Türkei:Die dunkle Seite des Staates

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Ein türkischer Anwalt will die Hintergründe eines Mordfalls an drei Christen aufklären - und hat plötzlich mächtige Netzwerke gegen sich.

Kai Strittmatter

"Die Türkei ist ein lustiges Land...", sagt der Anwalt nach einer weiteren jener Geschichten, die man nicht anders als mit fassungslosem Kopfschütteln zu begleiten weiß. Er lacht, und hilflos stimmt man ein in sein Lachen. Dann, noch immer lachend, vollendet der Anwalt den Satz: "...solange man nicht umgebracht wird."

"Die Türkei ist ein lustiges Land, solange man nicht umgebracht wird": Orhan Kemal Cengiz in seinem Anwaltsbüro in Ankara. (Foto: Foto: Strittmatter)

Ungeheures geschieht. Aber nichts, da ist sich Orhan Kemal Cengiz sicher, geschieht ohne Bedeutung. Schon gar nicht so ein Mord. Cengiz ist den Zusammenhängen auf der Spur.

Im März 2008 will der türkische Generalstaatsanwalt die Regierung seines Landes verbieten lassen. Im Februar 2008 stellt die Polizei dem Anwalt Orhan Kemal Cengiz einen Leibwächter zur Seite, weil er um sein Leben fürchtet.

Am 18. April 2007 werden in der türkischen Stadt Malatya der deutsche Protestant Tilman Geske und seine beiden türkischen Glaubensbrüder Necati Aydin und Ugur Yüksel in den Räumen ihres Bibelverlags an Stühle gefesselt, und stundenlang gefoltert, bevor ihnen die Kehle durchgeschnitten wird. Ein Arzt berichtet hinterher schockiert, die drei seien regelrecht "zerstückelt" worden.

Steinchen in einem Mosaik

Die Täter waren türkische Jugendliche. "Wir haben es fürs Vaterland getan", steht auf einem Zettel, den sie am Tatort hinterlassen. Keine fanatischen Muslime waren die Mörder, sondern fanatische Nationalisten. Wie schon beim Mord an dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink. Wie auch im Jahr zuvor beim Mord an dem katholischen Priester Andrea Santoro.

All diese Vorfälle, glaubt Orhan Kemal Cengiz, sind kleine Steinchen in einem großen Mosaik. Teil eines Kampfes. In dem es um die Zukunft seines Landes geht. "Die Türkei", sagt Cengiz, "steht an einem Scheideweg."

Eine Zeit lang habe das Land schon fast gewirkt wie eine richtige Demokratie, als, mit einem Male, all die Spannungen ausbrachen und politische Morde geschahen. Kein Zufall, meint der Anwalt. "Weitere fürchterliche Dinge könnten geschehen."

Cengiz steht als Rechtsanwalt den Familien der ermordeten Christen von Malatya bei. Der 40-Jährige ist ein erfahrener Anwalt aus Ankara, bekannt in Menschenrechtskreisen. Mit Anwürfen und Hassbriefen gegen seine Person hatte er gerechnet, als er anfing, die Nebenklage im Prozess gegen die Mörder zu organisieren, der im November begann. Nicht aber mit dem, was dann geschah.

Es ging los mit der Anklageschrift des Staatsanwaltes, die sich in nur 15 von 31 Schriftstücken den gefassten Tätern widmete - in den anderen 16 aber detailliert die Arbeit der Opfer und Adressen ihrer Glaubensbrüder in der ganzen Türkei beschreibt.

Netz dunkler Kräfte

"Als säßen hier nicht die Mörder auf der Anklagebank, sondern diejenigen, die es wagten, in der Türkei als Missionare zu arbeiten." Kein Wort dagegen zu den Kontakten der Täter zu Funktionären der MHP, der Partei der Ultra-Nationalisten.

Cengiz hatte von Anfang an den Verdacht, dass es in dem Fall Hintermänner gebe, ein Netz dunkler Kräfte, wie es auch in dem Mord an dem Journalisten Hrant Dink Stück für Stück ans Tageslicht kommt. Dort führten die Behörden den Anstifter als V-Mann, dort wussten Polizisten lange vor der Tat von den Anschlagsplänen - und unternahmen nichts.

Cengiz hatte einen anonymen Brief erhalten, in dem vom Mitwissen hochrangiger Gendarme und MHP-Funktionäre in Malatya die Rede war. Cengiz wollte Aufklärung. Also stellte er ein Team von nicht weniger als zwei Dutzend engagierten Anwälten zusammen, die gemeinsam die Akten durcharbeiteten. Was er dann erleben musste, überraschte ihn dennoch.

Empfangen wurde das Anwaltsteam mit einer Reihe von Artikeln in den Lokalzeitungen, die die Anwälte unter anderem als Sympathisanten von kurdischen PKK-Terroristen vorstellten, die möglicherweise daran arbeiteten, mit ausländischer Hilfe das Land zu spalten. "Wird hier ein neues Spiel gespielt?", lautete eine Überschrift.

Mehr noch als der Tonfall verstörte Cengiz aber die Erkenntnis, dass er es hier nicht bloß mit feindseligen Journalisten zu tun hatte: Die Artikel waren gefüttert mit Details aus Cengiz' Privatleben ebenso wie aus der geheimen Prozessstrategie, die die Anwälte in Telefonaten und einem internen Online-Forum abgesprochen hatten. "Wir wurden abgehört", sagt Cengiz.

Es blieb nicht bei den Artikeln. Ein Assistent Cengiz', der während des Prozesses in sein Hotelzimmer ging, um Informationen an die Presse zu versenden, musste feststellen, dass alle seine drei E-Mail-Konten blockiert waren.

"Ein blutrünstiger Killer"

Vor dem nächsten Verhandlungstag in Izmir ging beim Staatsanwalt und bei türkischen Journalisten ein vierseitiger Brief ein, der folgendes "enthüllte": Orhan Kemal Cengiz sei erstens in Wirklichkeit gar kein Türke, sondern Armenier, der zudem den Griechisch-Orthodoxen in der Türkei helfe. Vor allem aber sei er selbst heimlicher Protestant.

Innerhalb der protestantischen Mission habe es einen Streit gegeben zwischen der "deutschen Schule", zu der der in Malatya ermordete Tilman Geske gehört habe, und der "amerikanischen Schule", zu der Cengiz gehöre. Die Amerikaner wollten die Deutschen aus dem Weg räumen. Cengiz habe das für sie getan. Er sei nämlich "ein blutrünstiger Killer". Er habe zehn Millionen Dollar für die Morde bekommen.

Eingewoben in all den Irrsinn waren erneut konkrete Details aus Cengiz Privatleben, die eigentlich kein Fremder wissen konnte. "Versteckte Signale an mich", sagt Cengiz. Der Brief endet mit einer "Todesliste".

"Sie mögen lachen über einen solchen Brief. Aber er hat Methode", sagt Cengiz. "Hier will uns jemand nicht bloß verleumden, sondern auch Rauch und Nebel verbreiten, und vor allem will er mir zeigen: Wir wissen alles über dich, Cengiz. Sieh dich vor, du gehst zu weit."

Cengiz macht weiter. Wenig später taucht ein verurteilter Christenhasser auf, bei dessen Verhaftung man einst eine Kalaschnikow gefunden hatte. Eben aus dem Gefängnis entlassen, versucht er zuerst erfolglos, Cengiz telefonisch zu einem Treffen zu überreden.

"Zum ersten Mal Angst"

Dann geht der Mann nach Istanbul, um den Zeitungen dort folgende Geschichte zu verkaufen: Ja, die Tat von Malatya hänge tatsächlich zusammen mit den Morden an Hrant Dink und an Priester Santoro. Er wisse auch, wer dahinterstecke. Wer also? Genau: Orhan Kemal Cengiz. Nun entschloss sich Cengiz, Polizei und Staatsanwalt um Hilfe zu bitten.

"Ich habe viele schlimme Fälle vor Gericht vertreten. 1997 und 1998 habe ich Paramilitärs vor den Europäischen Gerichtshof gebracht wegen ihrer Zerstörungen und Morde in den Kurdengebieten", sagt Cengiz. "Aber heute habe ich zum ersten Mal Angst. Der tiefe Staat schaut mir in die Augen und grinst noch dabei."

Der tiefe Staat. Der Name hat sich in der Türkei eingebürgert für jene geheimnisvollen Netzwerke von Ultra-Nationalisten mit Kontakten hinein in Justiz, Militär und Geheimdienste, die sich immer dann berufen fühlen zu handeln, wenn sie die angeblichen Interessen des Vaterlandes in Gefahr sehen.

Man schreibt ihnen viele ungelöste politische Morde und Bombenanschläge zu. Premier Tayyip Erdogan war der erste Ministerpräsident, der öffentlich die Existenz des tiefen Staates vermutete. Er war auch der Erste, der zu einem Schlag gegen sie ausholte: In der Operation "Ergenekon" ließ die Regierung seit Januar mehr als 50 Leute festnehmen, darunter pensionierte Offiziere, Journalisten und jenen Anwalt, der den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wegen "Verleumdung des Türkentums" vor Gericht gebracht hatte.

Die Anklage gegen die Verhafteten lautet auf Verschwörung und Terrorismus. Waffenlager wurden ausgehoben. Angeblich soll die Gruppe ein Attentat auf Orhan Pamuk geplant haben. Und für 2009 dann einen Putsch gegen die Regierung. "Diese Leute fürchten die Demokratie. Und die EU", sagt Cengiz. "Sie wollen Chaos säen."

Der tiefe Staat

Premier Erdogan hat erst letzte Woche die Vermutung angestellt, der wahre Grund hinter dem Verbotsantrag gegen seine Regierungspartei sei nicht ihr angeblicher Islamismus, sondern sein Vorgehen gegen die Ergenekon-Bande: Die alten Mächte, meint er, fühlten sich bedroht.

Der tiefe Staat, sagt Cengiz, sei eine schreckliche Maschinerie. "Ergenekon ist nur die Spitze des Eisbergs. In Istanbul müssen Kolumnisten und Schriftsteller wie Orhan Pamuk um ihr Leben fürchten. Es ist eine Schande für unser Land." Der tiefe Staat, sagt er wenig später, sei ein Witz.

"Von wegen tief: Sie agieren in aller Öffentlichkeit. Selbst in einem Prozess wie dem in Malatya, der von der Welt verfolgt wird, schüchtern sie die Beteiligten ein." Woher diese Macht, diese Selbstsicherheit? "Ganz einfach: Sie fühlen sich unantastbar. Und sie wissen, dass ihnen das Volk auch die kränkesten Verschwörungstheorien abkaufen wird."

Orhan Kemal Cengiz ist eigentlich ein leutseliger Typ mit Witz und Geist. Im Moment aber ist sein Lachen ein grimmiges. "Ich habe oft die Kassandra gespielt", sagt er. "Unglücklicherweise habe ich oft recht behalten." Was also prophezeit er heute? "Wir werden noch viele Rückschritte erleben. Und viele politische Morde."

Seine Skepsis speist sich aus mehreren Quellen: Da ist die immer distanziertere Haltung der EU zur Türkei, von der er sich, wie so viele Liberale und Bürgerrechtler, schmerzlich im Stich gelassen fühlt. Da ist die türkische Gesellschaft, die mit den vielen Tabus und einer noch immer tief verwurzelten Intoleranz ein fruchtbarer Boden für Machenschaften und Manipulation sei.

Im Stich gelassen

Da ist der Wankelmut der AKP-Regierung, die lange ein Verbündeter der Liberalen war, und dann doch in ihrem Reformeifer erlahmte und dabei war, sich mit dem alten System zu arrangieren. ("Ein tödlicher Fehler", wie Cengiz bei einem ersten Gespräch in Ankara meinte: "Das System wird die AKP zermalmen." Eine Woche später stellte der Oberste Staatsanwalt den Antrag auf Verbot der Partei.) Und da ist die Kaste, der Cengiz selbst angehört: die Justiz. "Unsere Richter und Staatsanwälte denken noch immer, sie müssten den Staat vor dem Individuum beschützen."

Die Polizei, immerhin, hat Cengiz mittlerweile einen Leibwächter beigestellt. Untersucht aber wird das, was ihm widerfuhr, nicht. Cengiz war zum Staatsanwalt gegangen und hatte ihm die Dokumente vorgelegt, die belegen, dass Material für die Hetzkampagne gegen ihn aus Abhöraktionen stammen muss. "Aber Herr Cengiz", habe der Staatsanwalt achselzuckend entgegnet: "In der Türkei wird doch jeder abgehört."

© SZ vom 31.03.2008/gal - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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