Terrorserie in Mumbai:Attacke aus Zimmer 630

Lesezeit: 4 min

Ein gefasster Terrorist, zwei Mobiltelefone und ein GPS-Gerät erhellen die Hintergründe der verheerenden Anschläge von Mumbai - und verweisen auf erschreckende Details. Ein Protokoll.

Oliver Meiler

Er bereut nichts. Ajmal Mohammed Amir Kasab ist davon überzeugt, dass er das Richtige getan, dass er seine Mission erfüllt habe.

Vier Tage lang hatte sich eine der vier Attentätergruppen in das Zimmer 630 im Taj Mahal Hotel ein - und startete von dort die Angriffe. (Foto: Foto: dpa)

Die Festnahme des 21-jährigen Pakistaners aus Faridkot, Punjab, ist für die Polizei ein Glücksfall nach den verheerenden Anschlägen von Mumbai, dem früheren Bombay.

Der Terrorist redet. Er ist nur leicht verletzt an der Hand, die Polizei hat ihn nach einem Feuergefecht gefasst. Bis zu seiner Festnahme hatte er viele Menschen umgebracht in Mumbai, einer Stadt, die er zuvor nicht kannte. Es war Kasabs erste Reise nach Mumbai.

Sein Bild, aufgenommen von einer Sicherheitskamera im großen Bahnhof der Stadt, ging um die Welt. Es zeigt Kasab, wie er den Lauf der AK-47, die er in der rechten Hand trägt, anhebt und mit der linken fasst, um zu schießen. Scheinbar ganz ruhig. Es heißt, er sei gebildet. Und er redet viel.

Glaubt man der Polizei, dann redet Kasab sogar sehr viel. Er nennt die Namen jener Leute, die geholfen hätten. Fünf von ihnen leben in Mumbai. Er diktiert den vernehmenden Polizisten Adressen. Und er erzählt die Hintergründe der Operation. Kasab war einer jener zehn Männer, alle zwischen 18 und 28 Jahre alt, die am Mittwochabend über die indische Handelsmetropole hergefallen sind.

Ihr Plan war es offenbar gewesen, den 105 Jahre alten Taj Mahal Palace, das bekannteste Hotel der Stadt, eines ihrer wichtigsten Wahrzeichen, in Schutt und Asche zu legen. Und mit einer Serie koordinierter Angriffe, verteilt über die Innenstadt von Mumbai, wollten sie möglichst viele Menschen töten. Die Munition und die Granaten des Kommandos hätten gereicht, um 5000 Menschen umzubringen, sagen jedenfalls die Ermittler.

Aus Kasabs Aussagen, die von der Polizei an die indischen Medien weitergeleitet wurden, und anhand der Informationen von Augenzeugen lassen sich die Ereignisse der ersten Terrornacht recht präzise rekonstruieren. Auch der Ursprung der Operation wird etwas klarer. Etliches davon deckt sich mit den Erkenntnissen, die die Polizei aus der Datenanalyse eines gefundenen GPS-Geräts und zweier Mobiltelefone gewonnen hat:

Auf der nächsten Seite: Ein Protokoll der Anschläge in Mumbai.

Mittwoch, 26. November, 21 Uhr: Zehn Terroristen legen mit Schlauchbooten an der Südspitze Mumbais an, neben dem "Gateway of India", unmittelbar gegenüber dem Taj Mahal. Ihre Mission hatte in Karachi begonnen, der Finanzmetropole Pakistans. Das Kommando war mit einem Boot in internationales Gewässer vor dem indischen Bundesstaat Gujarat vorgestoßen, überwältigte dort die Crew eines Fischerboots, registriert unter dem Namen Kuber, tötete drei von vier Besatzungsmitgliedern und zwang den Kapitän, das Schiff nach Mumbai zu fahren.

Vier Seemeilen vor Mumbai schlitzten sie ihm die Kehle auf. Zwei Schlauchboote standen bereit, wahrscheinlich hingeschafft von indischen Komplizen der Gruppe. Sie stiegen um und ließen das Fischerboot stehen. Nachdem sie angelegt hatten, ließen sie auch die Schlauchboote zurück. In einem davon fand die Polizei ein GPS-Gerät, auf dem bereits der Rückweg programmiert gewesen sein soll. Offenbar dachten die Terroristen, sie würden die Anschläge überleben.

Sie hatten sich auf eine lange Operation eingestellt. Jeder hatte neben Waffen und Munition große Mengen an Mandeln, Datteln und Wasser im Rucksack. Laut Kasab stand das Kommando in ständigem Kontakt mit dem Chefplaner der Operation, einem gewissen Muzammil alias Yusuf, der in Karachi saß und der pakistanischen Extremistenorganisation Lashkar-e-Taiba angehören soll, einer Gruppe, die hauptsächlich für die Loslösung Kaschmirs von Indien kämpft.

Nach der Landung in Mumbai teilen sich die Attentäter in vier Gruppen ein. Drei Zweier-Gruppen besteigen Taxis und lassen sich zu ihren davor bestimmten Einsatzorten fahren. Offenbar hatten Komplizen in den Wochen zuvor Fotos davon gemacht und Pläne beschafft. Vier Monate soll die Planung der Anschläge insgesamt gedauert haben. Kasab sagt, die Gruppe sei in einem Trainingscamp von Lashkar-e-Taiba ausgebildet worden. Der Anschlag auf das Marriott Hotel in Islamabad, der im September verübt wurde, habe sie zusätzlich inspiriert.

21.10 Uhr: Die vierte Terroristengruppe, vier Mann insgesamt, überquert die Straße und dringt durch den Diensteingang ins Taj Mahal ein, das Hauptziel der Anschläge. Dort hatten sie mit falschen Identitätskarten (offenbar aus Mauritius) das Zimmer 630 gebucht - für vier Tage. In den Tagen vor den Anschlägen sollen viele Leute im Zimmer 630 ein und aus gegangen sein.

Wahrscheinlich deponierten sie Sprengstoff, Waffen und Munition. Das Kommando des "Taj" eröffnete das Feuer im Innenhof, warf Granaten, betrat die Lobby, schoss dort auf Angestellte und Gäste. In einem der Restaurants suchten die Terroristen nach Ausländern mit britischem und amerikanischem Pass. Sie brachten sie in die oberen Etagen des Hotels. Auf dem Weg dorthin erschossen sie jeden, der ihnen entgegenkam.

21.20 Uhr: Kasab und ein zweiter Terrorist sind am Colaba Causeway angekommen und eröffnen das Feuer auf die Gäste im Leopold Café. Dann fahren sie weiter zum Hauptbahnhof, dem Chhatrapati Shivaji Terminus, schießen willkürlich auf wartende Zugreisende, überqueren dann eine Fußgängerbrücke, lassen das Zeitungshaus der Times of India aus, das sie eigentlich ebenfalls hätten angreifen wollen, dringen in ein Krankenhaus ein, schießen auch dort wild um sich, stehlen ein Auto, einen Skoda, und fahren Richtung Meer, wo sie in eine Polizeisperre geraten. Der zweite Terrorist wird erschossen, Kasab stellt sich tot und wird weggebracht. Später bemerkt die Polizei, dass Kasab lebt.

21.50 Uhr: Eine weitere Gruppe erreicht das Oberoi Trident, ebenfalls ein Fünfsterne-Hotel auf der andern Seite der Halbinsel. Fast zeitgleich gelangt die letzte Gruppe zum Nariman House, das Gebäude einer jüdischen Gemeinschaft im Stadtteil Colaba und Wohnsitz eines Rabbiners aus New York und dessen Familie. Bis auf das Baby des Ehepaars werden alle getötet. Im Nariman House hatten sich offenbar vier Komplizen eingemietet. Sie gaben vor, sie seien Studenten aus Malaysia. Die indischen Medien warfen in diesem Zusammenhang die Frage auf, warum die jüdische Gemeinschaft diesen jungen, nichtjüdischen Männern eine Wohnung vermietet habe, wo dies sonst doch nur Juden vorbehalten sei.

In den folgenden Stunden und Tagen lieferten sich Sondereinheiten Gefechte mit den Terroristen im "Taj", im Oberoi und im Nariman House. Die Schlacht um das Taj Mahal dauerte bis Samstagmittag - 60 Stunden insgesamt. Offenbar spielten die Terroristen Katz und Maus mit den Sicherheitskräften. Wechselten ständig die Stockwerke im großen Hotel mit seinen vielen Gängen und Flügeln. Sie warfen Granaten, um falsche Fährten zu legen. 24 Stunden brauchte die Nationale Sicherheitsgarde, um die letzten zwei Terroristen zu töten. Erst dann begannen die Polizisten, alle Zimmer zu öffnen, eines nach dem andern. Und die Opfer zu zählen.

© SZ vom 01.12.2008/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: