Terrorismus und die Folgen:Nach Mumbai

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Weltweiter Wandel: Die Tragödie von Mumbai lenkt den Blick darauf, wie negative Effekte der Globalisierung Indien und andere Demokratien im 21. Jahrhundert verändern.

Dipesh Chakrabarty

Es fällt mir schwer, abstrakt und unpersönlich über das zu sprechen, was Ende November in Mumbai passiert ist. Einige Freunde haben ihre nächsten Angehörigen durch die Kugeln mörderischer Terroristen verloren. Ein alter Bekannter von der Universität rettete sein Leben aus dem Taj-Mahal-Hotel - während der gesamten Belagerung hatte er nichts zu essen und zu trinken.

Indien nach den Anschlägen von Mumbai: Das Land steht vor großen politischen Herausforderungen. (Foto: Foto: Reuters)

Ein muslimischer Taxifahrer schilderte im indischen Fernsehen in herzzerreißenden Worten, wie er Familienmitglieder am Chhatrapati-Shivaji-Bahnhof durch Attentäter verlor, die wohl dachten, dass sie für die Sache der Muslime kämpften. Dieser Bericht allein genügte, um jeden daran zu erinnern, dass es bei diesem Wahnsinn nicht um religiöse Unterschiede ging oder um das Verlangen der Menschen in Kaschmir nach einer gerechten politischen Zukunft.

Es handelte sich um den Versuch, durch den Mord an möglichst vielen unschuldigen und nichtsahnenden Menschen Angst zu verbreiten. Es war, wie alle Terrorakte, ob sie von Gruppen ausgeführt werden oder von Staaten, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die Tragödie von Mumbai lenkt den Blick darauf, wie einige der negativen Effekte der Globalisierung die Demokratien im 21. Jahrhundert verändern. In Anbetracht der vielfältigen globalen Spannungen - Terrorismus, wirtschaftlich-ökologische Krisen und Bürgerkriege - werden demokratische Staaten in den kommenden Jahrzehnten dazu neigen, den Sicherheitsaspekt immer stärker zu betonen.

Vor der Debatte des Jahrhunderts

Die Gewalt von Mumbai unterschied sich merklich von der terroristischen Gewalt, die Indien bis dahin gesehen hatte. Diesmal waren es die Terroristen selbst, die ein globales Ereignis schaffen wollten. Zu ihren Zielen gehörten ganz normale Inder, aber auch die internationale Elite, die in den bekanntesten Hotels von Mumbai verkehrt, der weltoffensten Stadt des Landes. Auch die Technologie der Terroristen und die Wahl ihrer Opfer waren global - nehmen wir nur die Internet-Telefonie, mit der sie mit ihren Strippenziehern in Pakistan kommunizierten, oder den bewussten Angriff auf eine kleine jüdische Einwanderergemeinde.

Durch die Gewaltorgie steht die indische Demokratie nun traurigerweise vor einer der großen Debatten des Jahrhunderts: Sollen demokratische Staaten auch Sicherheitsstaaten werden? Sicherheitsmaßnahmen sind kein Ersatz für politische Prozesse, aber ignoriert werden dürfen sie auch nicht. Die Terroristen haben bereits angedroht, in Neu-Delhi zu wiederholen, was sie in Mumbai taten. Wie konnte Indien Sicherheitsfragen bisher so desinteressiert vernachlässigen?

Die Situation wirft unmittelbar zwei Herausforderungen auf. Die erste Herausforderung bezieht sich auf allgemeine Fragen der Demokratie. Die Aussicht auf einen Sicherheitsstaat beunruhigt verständlicherweise und zu Recht Bürgerrechtsaktivisten. Eine der großen Debatten dieses Jahrhunderts wird, so viel ist klar, über den Gegensatz von individueller Freiheit und kollektiver Sicherheit geführt werden.

In den entwickelten Ländern ist es heute schwer, zwischen harter Anti-Terror-Politik und restriktiver Immigrationspolitik zu unterscheiden. Die liberalen Demokratien werden die Frage nach der Balance zwischen dem Recht der Bürger auf Sicherheit und anderen Bürgerrechten nicht umgehen können. Freilich kann diese Balance nicht a priori festgelegt werden. Entscheidend ist, dass das Streben nach Sicherheit nicht zu einem Instrument der Unterdrückung und Diskriminierung von Minderheiten und Einwanderern wird. Die Globalisierung dieser Debatte prägt unsere Zeit. In Indien wird die Diskussion nun neue Dynamik erhalten.

Die zweite Herausforderung, eine originär indische, erwächst aus der Geschichte der indischen Politik. Einen Cordon sanitaire gegen den Terrorismus zu schaffen, würde von den indischen Behörden Effizienz und Wachsamkeit in einem Maße erfordern, das sie seit Jahrzehnten nicht aufbringen. Seit den siebziger Jahren haben Indiens Regierung und die öffentlichen Institutionen ihre Fähigkeit verloren, ein effektiver Anbieter von Gütern und Dienstleistungen zu sein.

Die indische Demokratie hat viel erreicht - etwa die Beendigung der Notstandsherrschaft, die Premierministerin Indira Gandhi ausgerufen hatte, oder das Gefühl politischer Beteiligung, das auch Angehörige der unteren Kasten besitzen. Gleichzeitig ist die Demokratie in Indien aber auch zu einem Vehikel des Machtgewinns für einzelne Gruppen geworden - für Mitglieder der unteren Kasten, für die Ureinwohner Dalits, für Minderheiten oder sogar die hinduistische Mehrheit, die behauptet von den "Privilegien", die Minderheiten gewährt werden, geschwächt worden zu sein.

Die gestiegene Bedeutung der Identitätspolitik hat Wahlen zum Mittelpunkt der indischen Demokratie gemacht. Von Sachthemen hat diese Entwicklung die Politik dagegen entfernt. Obendrein ging sie mit wachsender Korruption einher. Gegen eine große Zahl von Parlamentsmitgliedern wird ermittelt, und Medienberichte weisen auf eine elefantöse, unverantwortliche und ineffiziente Bürokratie hin, die zügellos Ressourcen verschwendet: Korruption und Ineffizienz gehen oft Hand in Hand.

Die Ereignisse von Mumbai haben gezeigt, dass es eine funktionierende Küstenwache in indischen Gewässern nicht gab und das, obwohl die Regierung vor Angriffen vom Wasser aus gewarnt worden war. Als im Taj-Mahal-Hotel Feuer ausbrach, traf die Feuerwehr erst nach drei Stunden ein. Die Eingreiftruppe der Polizei musste von Neu-Delhi aus entsandt werden.

Schutz und Status

Die Mobilisierung dauerte neun Stunden, weil viele der Spezialisten für den "Schutz" von Politikern eingesetzt werden, die Schutz vor allem als Frage des Status begreifen. Es hat sich auch herausgestellt, dass eine sehr hohe Summe, die der Modernisierung der Polizei von Mumbai dienen sollte, für die Anschaffung stattlicher Limousinen und anderer Luxusartikel für hohe Offiziere und deren Gehilfen ausgegeben wurde.

Ein Sicherheitssystem zu schaffen, das die Bevölkerung tatsächlich vor terroristischen Attacken schützt, wird also nicht leicht sein. An staatlichen Geldern haftet in Indien stets der Ruch von Korruption. Das untergräbt die Leistungsfähigkeit des Landes. Außerdem wäre das effektive Funktionieren einer Institution in Indien nur möglich, wenn politische Einmischung strikt unterbunden würde. Die zweite Bedingung ist nicht leicht zu erfüllen. Die notwendigen Reformen bedürfen eines politischen Willens, den die politische Klasse in Indien in der Vergangenheit nicht gezeigt hat.

Dennoch kann Indien eine Debatte über Sicherheit und Bürgerrechte nicht länger vermeiden. Die Regierung hat bereits Maßnahmen angekündigt, die die Anti-Terror-Gesetze wirksamer machen sollen als bisher. Auf dem Papier wird es sicher weitere Reformen geben, und vielleicht werden sie sogar umgesetzt. Denn viele Mitglieder der gebildeten Mittelklasse sind im Moment erbost über die Unfähigkeit ihrer Regierung, sie zu schützen. Wir wissen noch nicht, wie erfolgreich sich dieser Ärger für echte Veränderung nutzen lässt. Wenn aber die politische Klasse so bleibt und weitermacht wie bisher, wird sich Indien daran gewöhnen müssen, mit einem gewissen Grad an Terror zu leben.

Mein optimistischstes Szenario hofft, dass die Inder ihre kurz- und langfristigen Probleme gemeinsam angehen und dass die Tragödie von Mumbai - so wichtig Sicherheitsüberlegungen auch sind - nicht nur ein neues Denken begründet, sondern auch zu einer Neubelebung der demokratischen Institutionen führt.

Der Autor, geboren 1948 in Kalkutta, lehrt südasiatische Geschichte an der University of Chicago und ist zur Zeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

© SZ vom 10.12.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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