Terrorismus im Kaukasus:Überrumpelt vom Feind aus den Bergen

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Der Tschetschenien-Konflikt frisst sich nach Naltschik in Kabardino-Balkarien vor, und die russische Führung kann nur hilflos Tatkraft demonstrieren.

Daniel Brössler

Der Arbeitstag bei der Zeitung des Südens in Naltschik beginnt immer um neun. "Zum Glück", sagt Irina, "denn wir waren alle schon im Büro, als es anfing." Es ist nicht etwa so, dass ein paar aus der Ferne zu hörende Schüsse die 24-jährige Journalistin schon aus der Ruhe bringen würden. "Wir haben uns an gelegentliche Angriffe auf Polizeiposten gewöhnt. Wir haben gelernt, damit zu leben", berichtet sie am Telefon. Doch an diesem Morgen war es anders, ganz anders. Was eben noch Irinas gewohnter Weg zur Arbeit war, verwandelte sich einige Minuten nach neun Uhr in ein Kriegsgebiet. "Wir hörten plötzlich ungeheuer heftige Gefechte", sagt sie und bemüht sich um einen sachlichen Ton. Sie klingt tapfer, wenngleich sie entschieden darauf besteht, dass ihr Nachname nicht in einer westlichen Zeitung stehen soll. Vorsicht ist den Menschen in der kleinen russischen Kaukasus-Republik Kabardino-Balkarien zur selbstverständlichen Überlebensstrategie geworden.

(Foto: SZ-Grafik, Beck)

Sofort nach Ausbruch der Kämpfe versuchten Irina und ihre Kollegen herauszufinden, was da eigentlich gerade passiert. Doch Anrufe bei den Behörden ergaben nichts. Erst aus Fernsehen und Internet erfuhren die Journalisten der Naltschiker Wochenzeitung, was in ihrer Stadt geschehen war: Dutzende, vielleicht hunderte muslimische Kämpfer hatten gleichzeitig Milizstationen, die örtliche Geheimdienstzentrale, andere Gebäude und offenbar auch den Flughafen angegriffen. Irinas erstes Gefühl war das der Angst um ihre Familie.

Sie rief ihre Mutter an, erfuhr, dass sie es glücklich zur Arbeit ins Krankenhaus geschafft hatte, obwohl ihr Bus beschossen worden war. Und sie telefonierte so lange, bis sie sicher war, dass auch ihrem 16 Monate alten Sohn, ihrem Mann und ihrem Vater nichts geschehen ist. Dann erst machte sie sich an die Arbeit für eine Sonderausgabe über den Angriff auf Naltschik, einem Ort, der eigentlich nicht mehr sein sollte als ein verschlafenes Provinznest im Südzipfel Russlands an der Grenze zu Georgien. Doch von diesem Zipfel aus sind es nur ein paar Stunden Fahrt ins umkämpfte Tschetschenien.

Dach voller Scharfschützen

Der Angriff begann, unbemerkt von den meisten Einwohnern, bereits am frühen Morgen in einem Vorort. Den schwer bewaffneten Kämpfern gelang es dann offenbar, die Sicherheitskräfte zu überrumpeln. Sie teilten sich in Gruppen auf und griffen an fünf bis sechs verschiedenen Punkten der Stadt an. "Das waren genau geplante und koordinierte Attacken", sagte ein Polizeioffizier der Nachrichtenagentur Tass. Es klang ein bisschen nach einer trotzigen Rechtfertigung. Immerhin war es den russischen Sicherheitskräften wieder einmal nicht gelungen, einen schweren Angriff zu verhüten - so wie vor kaum mehr als einem Jahr im 97 Kilometer entfernten Beslan. Eine Zeit lang mussten die Menschen an diesem Donnerstagmorgen gar bangen, dass sich die Geschichte auf fürchterliche Weise wiederholt. In der Schule Nummer 5 von Naltschik seien Schüsse gefallen, meldeten die Medien. Wenig später aber hieß es, alle Schüler seien rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden.

Bereits einige Stunden nach dem Angriff verkündeten die Behörden, die Lage sei unter Kontrolle. "Ich weiß nicht, ob das stimmt", sagt Irina vorsichtig. Beim Blick aus dem Fenster sehe sie die Scharfschützen auf den gegenüber liegenden Dächern, und natürlich höre sie auch noch Schüsse. Es ist dann schließlich Dmitrij Kosak, Wladimir Putins Mann für den Kaukasus, der beruhigend verkündet, es gebe keine "massenhaften Unruhen und Angriffe" mehr. Die "Banditen" seien größtenteils besiegt, nur zwei Brandherde loderten noch. In einer Polizeistation allerdings sei es den Kämpfern gelungen, Geiseln zu nehmen. Solche Nachrichten hört man nicht gern im Kreml, und so ist es an der Zeit, an die starke Hand des Staatsoberhaupts zu erinnern. "Der Präsident hat die Anweisung gegeben, dass keinem Kämpfer erlaubt werden darf, die Stadt zu verlassen, und dass jeder, der bewaffneten Widerstand leistet, ausgelöscht werden muss", stellt Vize-Innenminister Alexander Tschekalin nach einem Treffen mit Putin klar.

Zu diesem Zeitpunkt liegen in den Straßen von Naltschik schon Dutzende Leichen, wie Irina von ihren Reportern hört. Die Toten seien wohl islamische Kämpfer, aber genau könne das keiner sagen. Schließlich seien auch viele vom plötzlichen Einsatz überraschte Milizionäre in Zivil im Einsatz. Republikspräsident Arsen Kanokow spricht am Nachmittag von 50 "vernichteten" Angreifern und zwölf getöteten Zivilisten. Doch solche Angaben sind fast wertlos, zu widersprüchlich und unübersichtlich sind die Informationen, die aus der vom Militär abgeriegelten Stadt nach außen dringen. Mal ist von 60, mal von 300, mal von 600 islamischen Kämpfern die Rede.

Foltern, routinemäßig

So unklar wie die Zahl der Angreifer sind zunächst auch deren Ziele. Die örtliche islamistische Gruppe "Jarmuk" sei verantwortlich, glauben die Behörden in Naltschik. Doch wie stets in solchen Fällen, braucht Russland auch auf tschetschenische Bekenntnisse im Internet nicht lange zu warten. Der den tschetschenischen Islamisten nahe stehende Dienst Kawkas-Zentr vermeldet, "Einheiten der Kaukasus-Front der Streitkräfte der Tschetschenischen Republik Itschkeria" hätten Naltschik angegriffen.

Itschkeria, so nennen die Rebellen ihr Untergrundreich, dessen tatsächliche Größe und Stärke schwer einzuschätzen ist. Tatsache aber ist, dass die Kämpfer den Krieg aus Tschetschenien schon seit langem in den ganzen nördlichen Kaukasus tragen wollen. Der Duma-Abgeordnete Wiktor Iljuchin, Vizechef des Sicherheitsausschusses, glaubt jedenfalls genau zu wissen, wer hinter dem Angriff auf Naltschik steckt, nämlich Russlands meistgesuchter Terrorist Schamil Bassajew. "Nach unseren Informationen hat Bassajew den Schwerpunkt seiner Aktivitäten in die benachbarten Republiken verlegt. Er hat sich kürzlich mit Extremisten in Kabardino-Balkarien getroffen", berichtet er und enthüllt auch gleich, Bassajew sei jüngst höchstselbst durch Naltschik spaziert.

Es sind Behauptungen wie diese, welche die sich gern so allmächtig gebenden russischen Sicherheitskräfte in einem merkwürdigen Licht erscheinen lassen. Die Behörden in Naltschik seien diesmal vorgewarnt gewesen, wollen russische Nachrichtenagenturen erfahren haben. Und Sergej Gontscharow, Präsident der Veteranen vom Sonderkommando Alfa, gießt Öl ins Feuer: "Ich kann Ihnen nicht eine Republik im nördlichen Kaukasus nennen, wo die Rechtsschutzorgane richtig arbeiten", poltert er. Korruption und Verrat seien höchst verbreitet. Im verarmten Kabardino-Balkarien mit seinen 800.000 Einwohnern kommt ein Klima der Angst und des Misstrauens hinzu. Gläubige Muslime werden von den Behörden pauschal als islamistische Extremisten verdächtigt, nach Aussage von Menschenrechtlern wird auf Polizeistationen routinemäßig gefoltert. Das und die hohe Arbeitslosigkeit spielen den islamischen Extremisten der Gruppe "Jarmuk" in die Hände, die sich in den Bergen der kleinen Republik verschanzt haben, und die verantwortlich sind für eine Reihe von Anschlägen der vergangenen Jahre. Von der Stabilität, für die Kabardino-Balkarien einst gerühmt wurde, ist nichts mehr übrig. Das neue Ausmaß der Gewalt aber habe sie nicht für möglich gehalten, bekennt Irina, die Journalistin von der Zeitung des Südens. "Wir sind im Schock", sagt sie. Im Hintergrund sind Schüsse zu hören.

© SZ vom 14.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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