Tanzperformance:Aus der Tiefe der Seele

Lesezeit: 3 min

In der Choreografie von Natalia Horecna widmen sich das Bundesjugendballett und das Ensemble Resonanz Werken von Claude Vivier.

Von Antje Rössler

Sein Leben endete schrecklich: Mit gerade einmal 34 Jahren wurde der kanadische Komponist Claude Vivier (1948 - 1983) in seiner Pariser Wohnung erstochen. Den Täter, einen jungen Stricher, hatte er am Vorabend in einer Bar aufgegabelt. Auf dem Schreibtisch fand die Polizei Viviers letztes Werk, das mittendrin bei der Textzeile abbricht: "Dann nahm er einen Dolch aus seiner Jacke und stach durch mein Herz." Seither munkelt die Musikwelt, ob der Komponist sein eigenes Ende vorausgesehen hat.

Heute gilt Claude Vivier als einer der bekanntesten Musiker Kanadas. Zu Lebzeiten war er ein Außenseiter. Die fortschrittshörigen Kreise der Neuen Musik konnten wenig anfangen mit einem Kollegen, der sich nicht für Strukturprobleme, sondern für die Grundfragen des menschlichen Daseins interessierte. Der statt avantgardistischer Techniken traditionelle Melodien und Akkorde verwendete. "Vivier konstruiert nicht", meint die Choreografin Natalia Horecna. "Seine Musik scheint als Gabe Gottes einfach aus ihm herauszuströmen."

Die slowakische Choreografin hat die Tanzaufführung "Enlightened Child" zu Viviers Musik entworfen. Die Sommerkonzerte bringen ihre Performance, die 2015 erfolgreich in Hamburg uraufgeführt wurde, nun nach Ingolstadt. Mit von der Partie sind acht Tänzer des Bundesjugendballetts, das vor fünf Jahren von dem Choreografen John Neumeier, dem Chef des Hamburg Balletts, gegründet wurde. "Die jungen Tänzer arbeiten absolut professionell", erklärt Natalia Horecna, die viele Jahre selbst im Hamburg Ballett tanzte und seit dem Ende ihrer Bühnenkarriere europaweit als Choreografin arbeitet. "Sie sind extrem fokussiert und lernbegierig, mit einer großen Bereitschaft, neue Erfahrungswelten zu erkunden."

Die Musik für "Enlightened Child" spielt das Ensemble Resonanz. Sie spiegelt auch sinnliche Eindrücke wider, die Vivier in Asien gewann. (Foto: Audi)

Choreografin Natalia Horecna sieht in dem Komponisten ein "erleuchtetes Kind"

Viviers sinnliche Klänge eignen sich der Choreografin zufolge besonders gut für eine tänzerische Umsetzung. "Bei Vivier inspiriert mich jede einzelne Note", erzählt Horecna. "Seine Musik enthält alles, wovon ein Choreograf träumt; sämtliche Farben des menschlichen Daseins." Die tiefsinnige Musik reflektiert sein kurzes, aber schillerndes Leben. 1948 in Montreal geboren, verbringt Vivier die ersten Lebensjahre in einem katholischen Waisenhaus und wird dann adoptiert. Der Knabe will zunächst Priester werden, wird aber wegen seines aufsässigen Benehmens aus dem Seminar geworfen. Später wendet er sich der Musik zu und studiert drei Jahre in Europa. In Köln hinterlässt Karlheinz Stockhausen, der Papst der seriellen und elektronischen Musik, bei ihm einen tiefen Eindruck.

Seine unbekannte Herkunft, die Homosexualität und die spirituelle Suche - all das spiegelt sich in Viviers Musik. Sein kreativer Antrieb ist die Suche nach einer Mutter, nach einer behüteten Kindheit, die er nie erlebt hat. "Viviers Musik erzählt von zerbrechlichen kindlichen Wünschen, von Schmerz, Einsamkeit und dem fürchterlich drängenden Bedürfnis, geliebt zu werden", erklärt Horecna, die in dem Komponisten ein "erleuchtetes Kind" sieht und ihren Tanzabend deshalb "Enlightened Child" betitelt hat.

Tatsächlich wirken Viviers Klänge kindlich unbefangen aneinandergereiht. Zumal nach einer Asienreise im Jahre 1976 exotische Gongs, Becken und Glocken die Partituren des Komponisten bereichern. "Viviers Musik existiert jenseits von Moden und Trends", stellt der kanadische Dirigent Jean-Michaël Lavoie fest, der die Aufführung von "Enlightened Child" leitet. "Seine Musik ist genauso universal wie die von Beethoven." Das Ballett kombiniert drei Werke aus Viviers letzten Lebensjahren. Den Anfang macht "Wo bist du Licht!", das der Komponist als "Meditation über den menschlichen Schmerz" verstand. Hier kommen auch balinesische und chinesische Gongs zum Einsatz. Es folgt das melodiöse, ebenfalls von Gongschlägen umraunte "Bouchara", das Vivier als "Liebeslied" beschrieb. Zum Abschluss erklingt das mit exotischen Klangfarbeneffekten gespickte "Zipangu" - so nannte man zu Marco Polos Zeiten das Inselreich Japan.

Die Musik kommt von dem in Hamburg ansässigen Ensemble Resonanz. "Wir verwenden Streicher und Holzbläser, Perkussion und Tonband-Einspielungen", erklärt Dirigent Jean-Michaël Lavoie. "Mit anderen Worten: Es handelt sich um ein klassisches Orchester, das aber anders eingesetzt wird. In den ersten beiden Stücken treten außerdem zwei Sängerinnen auf."

Die größte Herausforderung bei Viviers Musik sieht der Dirigent darin, die großen Melodiebögen so natürlich wie möglich zu formen. "Wir Aufführende müssen dafür im Einklang mit der Musik atmen", meint er. Wenn das gelingt, entfaltet Viviers Musik all ihre Sinnlichkeit, Klangschönheit und Gefühlstiefe.

Ensemble Resonanz, Bundesjugendballett, 12. Juli, 19.30, Stadttheater Ingolstadt, Festsaal

© SZ vom 09.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: