SZ-Leitartikel:Das Ende der Hegemonie

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Eine Allianz, wie sie der amerikanische Präsident nach dem 11. September geschmiedet hat, hat es nie zuvor in der Weltgeschichte gegeben.

Wolf Lepenies

(SZ vom 10.10.2001) - Es ist, als hätten die USA, die seit langem von tiefem Misstrauen gegen die Weltorganisation erfüllt sind und sie an den Rand des finanziellen Ruins gebracht haben, die UN neu erfunden und zu einer schlagkräftigen Institution gemacht.

Amerika war klug genug, sich rechtzeitig ein Mandat des Sicherheitsrats einzuholen. Der Traum Woodrow Wilsons, der sich nach dem Ersten Weltkrieg nicht erfüllte, scheint mit dem Angriff auf die Taliban Wirklichkeit geworden: Endlich gibt es einen Völkerbund.

Der Bund der Regierungen gegen das Netzwerk Osama bin Ladens lässt alle anderen Konflikte in den Hintergrund treten: Russland agiert, als sei es bereits ein treues Mitglied der Nato, die Atommacht Pakistan findet sich in einer Koalition mit dem Erzfeind, der Atommacht Indien, Arafat gibt sein Blut für Israels Freunde und die Innenminister von CSU und SPD preisen sich gegenseitig.

Der Kampf gegen den Terror eint alle, weil jeder unter "Terror" etwas anderes verstehen kann. In Russland werden die Tschetschenen, in China die Tibeter, in Saudi-Arabien die Dissidenten die Folgen zu tragen haben. Die Weitsicht, die jetzt alle eint, wird mit Wegsehen bezahlt werden.

Die USA laufen Gefahr, einer Illusion zu verfallen, deren Opfer bereits Woodrow Wilson wurde: wann immer Amerika im Namen universaler moralischer Prinzipien handelt, glaubt es, dass seine Führungsrolle überall auf der "zivilisierten Welt" anerkannt und mit ehrlichem Enthusiasmus unterstützt wird.

Davon aber kann trotz aller Solidaritäts-Rhetorik keine Rede sein. Vielmehr haben Terrorattacken nur einen Prozess unterbrochen, der darauf abzielte, in der Welt wieder zu einer Machtbalance zu kommen und das Übergewicht der einzigen Supermacht zu reduzieren.

Vom unipolar moment in der Weltgeschichte war nach 1989 die Rede. Nicht nur im State Department wurde diese Feststellung mit beträchtlichem Stolz verkündet. Der Kommunismus schien - mit Ausnahme weniger Enklaven, die so klein wie Kuba und so riesig wie China waren - besiegt zu sein. Die Welt würde, angefeuert durch die New Economy, zur Weltgesellschaft zusammenwachsen.

Zwei Floskeln - optimistisch die eine, pessimistisch die andere - genügten, um den künftigen Weltlauf vorherzusehen: "Das Ende der Geschichte" und "Der Kampf der Kulturen". Nicht nur die Weltgeschichte, auch die Weltgeschichtsdeutung lag nach dem Ende der kommunistischen Regime fest in amerikanischer Hand.

In den letzten Jahren aber zeigten sich Tendenzen, wieder zu einer multipolaren Machtordnung zu kommen. Dass der chinesische Ministerpräsident Li Peng 1996 mit seinem Nachbarn Boris Jelzin aggressiv die Rückkehr zu einer "multipolaren Welt" verlangte, kann nicht überraschen. Dass Frankreichs Außenminister Hubert Védrine 1997 bei einem Botschaftertreffen das "Risiko der Hegemonie" beklagte, womit nur die USA gemeint sein konnten, erklärt sich auch aus historischem Neid: seit der Revolution von 1789 nahm die Französische Republik für sich in Anspruch, im Namen des ganzen Menschengeschlechts zu handeln.

Es waren nicht zuletzt die Politiker Europas, des Kontinents, der schon früh die balance of power zu seiner sicherheitspolitischen Leitidee entwickelt hatte, die sich bemühten, ein Gegengewicht zu den übermächtigen USA zu schaffen. So wie Leopold Ranke die USA als jenseitiges Europa sah, sollten nun die Vereinigten Staaten von Europa zu einem diesseitigen Amerika werden.

Tony Blair, der englische Freund, wollte nach den Erfahrungen im Kosovo die Sicherheit Europas nicht länger mehr als Prärogative der Nato sehen, sondern plädierte für eine neue europäische Verteidigungsgemeinschaft. Und der Euro wurde nicht nur als Gemeinschaftswährung, sondern auch als Alternative zum Dollar geprägt. Gelassene amerikanische Beobachter sahen in den europäischen Anstrengungen den Ausdruck einer geopolitischen Gesetzmäßigkeit.

Jedes Übergewicht führt zu einem entsprechenden Gegengewicht. Auch wenn sich hinter vielen Äußerungen ein neuer Isolationismus verbergen mochte: vorrangiges Motiv war die Einsicht, dass Amerika nicht auf Dauer eine weltpolitische Hegemonie würde beanspruchen können.

Der 11. September hat diese realpolitischen Einsichten verdrängt. Im Kampf gegen den Terror steht der größte Teil der Welt unter amerikanischer Führung zusammen. Auf lange Sicht aber muss Amerika daran gelegen sein, nicht die einzige Hegemonialmacht zu bleiben, sondern im Rahmen miteinander geteilter zivilisatorischer Grundüberzeugungen auch die Macht mit anderen zu teilen.

Wenn in Afghanistan an Stelle der Fanatiker wieder die Stammesfürsten oder, besser noch, Demokraten herrschen, werden in der Welt die Bestrebungen stärker werden, wieder eine Vielfalt der Machtzentren herzustellen. Mit Anti-Amerikanismus hat das nichts zu tun. Bewährt sich die Allianz gegen den Terror, wird neue politische Handlungsfreiheit entstehen, deren Grenzen nicht vom starren Blick auf die USA bestimmt werden. Gelingt dieser Versuch, würden die USA davon am meisten profitieren.

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