SZ-Kommentar:Ein deutscher Expeditionsbericht

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Heribert Prantl

Es gibt Konzepte, die furioser daherkommen als dieses Einwanderungskonzept - Konzepte, die visionärer tun, die mehr Trara und Tamtam machen.

Es gibt Programmschriften, die schillernder sind - die aber alsbald platzen, weil sie dünn sind wie Seifenblasen; das Schröder/Blair-Papier über den "dritten Weg" gehörte zu dieser Sorte.

Es gibt Manifeste, die große Umwälzungen ankündigen, vom Paradigmenwechsel schwadronieren und die Zukunft neu erfinden.

All das macht das 300-Seiten-Papier nicht, das Rita Süssmuth am Mittwoch unter dem schlichten Titel vorstellt: "Zuwanderung gestalten, Integration fördern. Bericht der Unabhängigen Kommission Zuwanderung".

Dieses Konzept ist nicht furios, nicht visionär, nicht schillernd und nicht funkelnd - aber dafür ist es im Wesentlichen richtig.

Das Konzept weist keinen ominösen "dritten Weg", dafür aber zeigt es auf, was in der deutschen Politik zu tun ist.

Dieses Konzept tut nicht revolutionär, ist aber revolutionär. Es läuft hinaus auf eine Totalrevision des deutschen Ausländerrechts - weg von einer Abwehr- und Verwirr-Ordnung mit Wurzeln in der Ausländerpolizeiverordnung von 1938, hin zu einem partnerschaftlichen Recht.

Es spricht bescheiden von einer "politischen Richtungsänderung", verlangt aber tatsächlich viel mehr: eine Kehrtwendung deutscher Politik.

Ausländerpolitik wird, wenn dieses Konzept umgesetzt wird, kein Unterfall des Polizeirechts mehr sein, sondern ein bürgerliches Verwaltungsrecht. Das Konzept der Kommission sieht im Einwanderer nicht mehr den Störer, sondern den potentiellen neuen Staatsbürger.

Der Bericht der Einwanderungskommission ist eine Art Expeditionsbericht: Die Kommission entdeckt einen neuen Kontinent für die deutsche Politik. Die Kartografie stimmt noch nicht ganz genau.

Die Wege zur Integration der Einwanderer sind noch zu schlecht markiert, die Flüchtlingspolitik wird da und dort auf Irr- und Abwege geschickt, manche Problemfelder sind nicht erkannt worden, und es ist, weil das derzeitige Ausländerrecht voller Tücken steckt, nicht jede Tücke ausgeräumt.

Aber: Die Expedition war im Grunde erfolgreich, jetzt muss die Politik ihr folgen - auf einem Weg, der eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen deutscher Ausländerpolitik beendet.

120 Jahre nach dem Beginn der Anwerbung polnischer Arbeitskräfte im deutschen Kaiserreich, 45 Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen in der Bundesrepublik, 37 Jahre nach der Begrüßung des einmillionsten Einwanderers im Nachkriegsdeutschland, 20 Jahre nach der Feststellung von Max Frisch, man habe Arbeitskräfte gerufen, aber Menschen seien gekommen, gibt es nun erstmals ein schlüssiges, ausländerfreundliches, integratives Gesamtkonzept mit Aussicht auf Verwirklichung.

Wie in jedem Expeditionsbericht gibt es auch im Einwanderungskonzept dürftige Stellen, Irrtümer, Oberflächlichkeiten. Die fünfzigtausend Einwanderer pro Jahr, von denen die Kommission spricht, werden nie und nimmer ausreichen.

Die Kommission bleibt hier ganz vorsichtig, um nicht zu verschrecken. Fünfzigtausend - das ist ungefähr so, als hätte Kolumbus nach der Landung um sich geschaut, die Indianer gezählt und das dann für die Einwohnerzahl Amerikas gehalten.

Entscheidend sind aber nicht numerische Größen, die im Einwanderungskonzept genannt werden, entscheidend sind die Prinzipien, nach denen Einwanderung geregelt und Integration vorbereitet werden soll.

Wenn diese stimmen, dann stimmen sie auch für größere Zahlen von Einwanderern.

Die Kommission nimmt Abschied vom hochkomplizierten bisherigen System der gestaffelten Aufenthaltstitel. Es beendet den behördlichen Missbrauch der so genannten Duldung, der die Ausländer möglichst lang in einem Zustand der Illegalität hält.

Sie macht Schluss mit dem Unfug, dass in Deutschland geborene und aufgewachsene Jugendliche, die hier straffällig geworden sind, ins Land ihrer Eltern ausgewiesen werden können. Und sie schlägt zu Recht vor, die Einbürgerung der ersten, angeworbenen Ausländergeneration zu erleichtern, die sich mit der deutschen Sprache natürlicherweise schwerer tut, als dies ihre Kinder tun.

Die Kommission hat der Aufforderung Schilys vom Juli 2000 widerstanden, "ohne Tabus" an die Sache heranzugehen - falls der Minister damals darunter eine weitere Beschneidung des Asylgrundrechts gemeint haben sollte.

Die Kommission hat aber leider unnötige Verschärfungen in die Fälle der Ablehnung von Flüchtlingen als "offensichtlich unbegründet" gebracht. Man bestraft die Flüchtlinge dafür, dass das rigide deutsche Asylrecht sie zu den Tricks zwingt, die sie dann auch anwenden.

Glücklicherweise aber bekennt sich die Kommission (wenn auch mit gewundenen Formulierungen) dazu, dass Flüchtlinge auch vor nichtstaatlicher Verfolgung effektiv geschützt werden müssen.

Jetzt sind die Parteien am Zug. Der Freiburger Zeithistoriker Ulrich Herbert hat diese zu Recht an die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge nach 1945 erinnert: als Beispiel dafür, wie sich der Prozess der Verwandlung von Fremden in Einheimische beschleunigen kann, wenn der politische Wille und vernünftige gesetzliche Regelungen vorhanden sind.

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