SZ-Kommentar:Das Jahrhundert-Gesetz

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Heribert Prantl

(SZ vom 13.12.2001) - Es gibt kein anderes Gesetz, das einen so langen Anlauf gebraucht hat. Es gibt kein anderes Thema, vor dem sich der Gesetzgeber so sehr gescheut hat. Und es gibt kein anderes Problem, mit dem sich die deutsche Politik so viele Jahrzehnte so entsetzlich schwer getan hat. Heute, endlich, debattiert der Bundestag umfassend über Einwanderung und Integration. Heute liegt in erster Lesung ein Gesetz vor, das Zuwanderung steuern und regeln soll - zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Parlamente.

Vor 120 Jahren hat in Deutschland, im wilhelminischen Kaiserreich, die Anwerbung von Arbeitskräften begonnen. Zu der Zeit holten sich die ostdeutschen Gutsbesitzer Landarbeiter aus Polen. Schon damals klagten die Arbeitgeber über die "Leutenot"; schon damals, hundert Jahre vor der EU-Erweiterung, sahen die Gewerkschaften das Lohngefüge von den Ausländern bedroht; und schon damals warnten (nicht nur) die rechtskonservativen Parteien vor Überfremdung. Man kann also nicht behaupten, dass es heute zu früh wäre, die großen Linien für eine umfassende Gestaltung der Zuwanderungs- und Integrationspolitik gesetzlich zu formulieren.

Seit vierzig Jahren wird nun in der Bundesrepublik erbittert über die Ausländerpolitik gefeilscht und gestritten. An so einem Tag wie heute wünscht man sich, Politiker könnten viel, viel älter werden. Friedrich Zimmermann, der ehemalige Bundesinnenminister, ist 75 Jahre alt. Wolfgang Schäuble, sein Nachfolger in diesem Amt, ist 58. Rudolf Seiters, der nächste in der Reihe, ist 63; Manfred Kanther 62, Otto Schily 69, der bayerische CSU-Chef Stoiber, sein Gegenspieler in Sachen Einwanderung, ist 60 Jahre alt. Man stelle sich einmal vor, jeder der Genannten wäre hundert Jahre älter: Sie alle hätten dann erlebt, wie der Reichstag in Berlin, das Reichsgericht zu Leipzig, die U-Bahn in der Reichshauptstadt und das gesamte deutsche Eisenbahnnetz überwiegend von ausländischen Arbeitern gebaut wurden. Sie hätten erlebt, wie die Ruhr-Polen von Wanderarbeitern zu Einwanderern wurden. Sie hätten erlebt, wie schon vor hundert Jahren die öffentliche Debatte zwischen Arbeitskräftebedarf und Überfremdungsangst schwankte. Sie hätten den jahrzehntelangen Streit um die polnischen Saisonarbeiter erlebt, jenen Streit also zwischen den Alldeutschen einerseits, die vor einer Polonisierung Preußens warnten, und der Wirtschaft andererseits, die billige und willige Arbeitskräfte suchte.

Es war ein Streit, der in den achtziger und neunziger Jahren seine Neuauflage fand, jetzt unter türkischen Vorzeichen. Die Politiker hätten schon vor vielen Jahrzehnten gelernt, dass man ausländische Arbeitskräfte nicht als beliebige Manövriermasse behandeln kann. Schon lange vor den Wirtschaftskrisen des ausgehenden 20.Jahrhunderts konnte man die Erfahrung machen, dass in Zeiten schlechter Konjunktur die Ausweisung und Abschiebung von Arbeitern mit ausländerfeindlicher Polemik vorbereitet und mit patriotischen Motiven kaschiert wird.

Die Innenminister der vergangenen dreißig Jahre hätten die Irrwege der deutschen Ausländerpolitik schon vor hundert Jahren erlebt und es sich und dem Land dann hoffentlich erspart, sie noch einmal zu gehen. Viele der zwischen 1970 und 1990 heiß diskutierten Maßnahmen hätte man nicht mehr diskutieren und ausprobieren müssen, weil sich ihre Untauglichkeit oder Gefährlichkeit schon Jahrzehnte vorher erwiesen hatte. Ein Zimmermann oder ein Schäuble mit Jahrhunderterfahrung hätte zum Beispiel das preußische Rotationsprinzip gekannt, das die polnischen Arbeitskräfte jeweils am Ende der Saison wieder nach Haus schickte, um ihnen so klar zu machen, das sie nur "geduldete Fremdlinge" seien - die dann, wenn sie eine Deutsche geheiratet hatten, samt Frau und Kind ausgewiesen wurden. Mit all solchen Erfahrungen hätten die Innenpolitiker im Jahr 2001 nicht mehr über Leitkultur diskutieren müssen, weil sie das schon längst hinter sich gehabt hätten - im Jahr 1913 zum Beispiel, als zur Bewahrung der deutschen Eigenart das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz verabschiedet wurde.

Ausländerpolitik in Deutschland: Dasselbe Stück ist immer und immer wieder neu inszeniert worden. Diskussionen über Einwanderung liefen ab wie ein mittelalterliches Ritterstück: Die Kontrahenten standen sich schnaubend gegenüber, auf dem Schild des einen stand "Deutschland braucht Einwanderer", auf dem Schild des anderen "Deutschland ist kein Einwanderungsland". Die Gegner legten die Lanzen ein, sprengten aufeinander los, es war ein Getrampel und ein Geklirre - und dann flog einer aus dem Sattel. Sodann verzog sich der Staub, und die Sache ging wieder von vorne los. Es ist zu befürchten, dass die erste Lesung des Zuwanderungsgesetzes heute wiederum nach diesem Ritual verläuft. Und es ist zu hoffen, dass damit dann dieses Stück zum letzten Mal aufgeführt worden sein wird.

Spätestens im Bundesrat muss und wird sich die Union ihrer Verantwortung stellen und mit den Stimmen von CDU-mitregierten Ländern die Mehrheit für dieses Gesetz sichern, das fürwahr ein historisches Werk ist. Auf CDU-Parteitagen heißt das Motto ja gern: Zukunft sichern und gestalten. Genau darum geht es hier.

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