Studie zu Patienten-Tötungen:Das Zerrbild des eigenen Todes vernichten

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Warum töten Pfleger und Krankenschwestern, Ärztinnen und Ärzte Menschen, die sie behandeln und pflegen sollen? Warum werden geschätzte und beliebte Vertrauensleute zu Serientätern? Und warum werden die Taten oft erst nach Jahren zufällig entdeckt?

Von Heidrun Graupner

Karl-Heinz Beine forscht weiter, in Budapest, in Luzern, in den USA, in Frankreich - und in Sonthofen. Der Chefarzt für Psychiatrie am St. Marien-Hospital in Hamm hat die erste systematische Studie zum Thema "Patiententötungen" vorgelegt, doch immer neue Fälle kommen hinzu.

Warum töten Pfleger und Krankenschwestern, Ärztinnen und Ärzte Menschen, die sie behandeln und pflegen, denen sie helfen sollen? Warum werden sie zu Serientätern, meist erst nach Jahren und durch Zufall entdeckt?

Aus welchen Motiven handelte etwa der von allen Kranken geliebte englische Hausarzt Harold Shipman, der über Jahrzehnte hinweg an die 300, vielleicht aber auch 500 Patienten mit Morphium in den Tod gespritzt hat? Shipman selbst hat über sein Motiv geschwiegen. Er erhängte sich im Februar in seiner Zelle.

Zwölf Tötungsserien in der BRD

Der Kriminalwissenschaftler Stephan Harbort, führender Kenner des Phänomens des Serienmordes, geht davon aus, dass es in der Bundesrepublik bisher zwölf Tötungsserien an Patienten gegeben hat.

So tötete 1986 in Wuppertal eine Krankenschwester fünf alte Menschen; 1991 brachte ein Krankenhauspfleger in Gütersloh zehn Patienten mit Luftinjektionen zu Tode; 1996 tötete ein Pfleger in einem Berliner Bundeswehrkrankenhaus fünf Patienten. "Gibt es noch ein Tötungstabu", fragte der Krankenpfleger und Buchautor Hans Wittig nach diesen und anderen Fällen.

Die Frage nach dem Motiv steht bei allen Tötungsserien im Vordergrund. Manches Mal spielt bei den Taten Habgier eine Rolle, so beispielsweise vor drei Jahren in Bremerhaven, als ein Altenpfleger den Mord an fünf alten Frauen gestand. Doch Habgier ist eine Ausnahme.

Die meisten Täter geben Mitleid mit Schwerstkranken als Grund an. Doch eben das scheidet nach der Studie des Psychiaters Beine als Tötungsmotiv aus. Es sei nicht Mitleid, sagt Beine, sondern die Unfähigkeit der Täter, Leidenszustände aushalten zu können.

Heimliche Komplizen

"Der Täter will das Leiden abschaffen, in dem er den Träger des Leidens abschafft und das Zerrbild des eigenen Todes vernichtet." Auch Machtgefühle als Tatmotiv zweifelt Beine an, es gehe dann um eine persönliche Niederlage, weil man ohnmächtig gegenüber Leiden sei, es nicht abwenden könne.

Die Täter sind nach Beines Untersuchungen in der überwiegenden Mehrheit Männer. Charakterlich gelten die meisten als selbsunsicher. Sie haben privat kaum Kontakte, gehen nicht zu Einladungen. Gleichzeitig aber sind sie oft Vertrauensleute, sehr geschätzt und beliebt, ob als Pfleger oder als Arzt.

Über ihre Taten sprechen sie mit niemanden, doch gaben viele genaue Prognosen über den Todeszeitpunkt eines Patienten ab. Die Selbstisolation bezeichnet Beine als Warnhinweis, ebenso eine verrohte Sprache, der Psychiater nennt dies eine "zynische Erstarrung".

Der Geschäftsführer der deutschen Hospiz-Stiftung, Eugen Brysch, berichtet, der Pfleger rede dann nicht mehr von Frau Müller, sondern sage: "Der Apoplex ist abgekratzt." Mit solch zynischen Worten, erklärt Beine, wolle der Täter auch eine heimliche Komplizenhaft zu den Kollegen herstellen.

Die erste Tat steigert die Tötungsbereitschaft

Hinweise auf Tötungen aber werden übersehen oder verdrängt, denn solche Taten sind für jede Klinik und jedes Heim eine Katastrophe, der Super-GAU wie sich Beine ausdrückt. Äußere jemand einen Verdacht, dann werde er häufig zurückgewiesen.

In Wuppertal habe Mitte der achtziger Jahre ein Pfleger auf merkwürdige Handlungen der Krankenschwester aufmerksam gemacht und die Antwort erhalten: "Sie konnten wohl sexuell nicht bei ihr landen".

"Am Ort des gewöhnlichen Sterbens ist die Wahrscheinlichkeit gering, eine Tat zu entdecken," sagt Beine. Auch seien alle angetreten, zu heilen und zu helfen, daher werde das Töten selbst in Gedanken für unmöglich gehalten. Nach der ersten Tat steige aber die Bereitschaft, wiederholt zu töten.

Vorbeugend, meint der Psychiater, helfe eine Arbeitsatmosphäre, in der das Personal über seine aggressiven Fantasien reden könne. "In Heimen und Kliniken arbeiten Menschen wie wir, die aber in ihrer Arbeit abgewertet werden, auch das spielt eine Rolle."

Gerade jetzt müsse darauf geachtet werden, dass an sich Verbotenes nicht zur Normalität werde, fordert Beine. Der Umgang mit alten Menschen ändere sich, zu vieles werde bereits "politisch in Kauf genommen und gesellschaftlich toleriert".

Der Psychiater meint damit die unerträgliche Situation in manchen Pflegeheimen, die Diskussion über Pflegekosten und über Sterbehilfe. "Alten Menschen werden Ressourcen vorenthalten und viele nimmt man in ihrer Menschlichkeit nicht mehr wahr."

© SZ vom 4.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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