Sterbehilfe-Diskussion:Verurteilt zum Leben

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Eine hochbetagte Schlaganfall-Patientin wurde sechs Jahre lang künstlich ernährt. Gegen ihren Willen, sagt der Sohn - der dafür kämpfte, dass seine Mutter sterben darf.

Nina von Hardenberg

In den letzten Monaten ihres Lebens hatte Hedwig Boedrich die Hände im Schlaf zu Fäusten geballt. So fest presste sie die Finger zusammen, dass die Pfleger ihr zwei Kuscheltiere in die Hände drücken mussten, damit sie sich nicht die Handflächen zerkratzte. Die alte Frau ballte die Fäuste, weil ihre Finger krampften, nicht aus Wut, erklärt der Sohn.

Wann ist die Lebenszeit eines Menschen abgelaufen? Eine Patientin im Sterbezimmer eines deutschen Krankenhauses. (Foto: Foto: ddp)

Grund zur Wut hätte sie seiner Meinung nach aber auch gehabt. Wut, dass man sie mit 97 Jahren nach zwei Schlaganfällen, die sie lähmten und ihr das Bewusstsein weitgehend raubten, weiter über Schläuche ernährte und so am Leben hielt - gegen ihren Willen, sagt er.

Der Sohn, Harry Boedrich, sitzt in einem Münchner Café unweit des Pflegeheims und erzählt eine Geschichte, die ihn selbst immer noch zu verwundern scheint. Sie handelt von einer innigen Mutter-Kind-Beziehung, die durch Krieg und gemeinsame Flucht gestärkt wurde. Und von einem Versprechen, das er, ihr einziger Vertrauter, nicht einlösen konnte: "Sie hat sich immer einen schnellen Tod gewünscht", sagt er.

Nur wenige Deutsche haben ihre Wünsche aufgeschrieben

Der 72-Jährige hat dafür gekämpft, dass seine Mutter sterben darf. Er hat sich dafür mit Ärzten angelegt und ist vor Gericht gezogen. Boedrich ist nicht sprachgewandt. Er hat sein ganzes Leben im Finanzamt gearbeitet. Ein Beamter, einer, der alles richtig machen wollte, und sich dabei doch angreifbar machte. Einer, der lernen musste, dass Sterben in Deutschland nicht leicht ist, wenn man keine Patientenverfügung hat.

Kommende Woche wird sich der Bundestag mit einem Gesetzentwurf befassen, der die Verbindlichkeit solcher Verfügungen stärken soll, in denen Menschen aufschreiben, wie sie im Falle einer Bewusstlosigkeit behandelt werden wollen. Doch auch jetzt schon ist der vorab verfügte Patientenwille für den Arzt bindend. Das Problem: Nur etwa elf Prozent der Deutschen haben ihre Wünsche aufgeschrieben.

Wer aber entscheidet für die vielen anderen, die sich nie oder nur mündlich geäußert haben? Wer sagt, wie lange eine alte und schwer hirngeschädigte Frau leben soll?

Hedwig Boedrich wäre es nie in den Sinn gekommen, eine Patientenverfügung auszufüllen. Bei dem Gedanken an das Verhältnis seiner Mutter zu Schriftstücken muss der Sohn lächeln. "Meine Mutter gehörte zu der Generation von Menschen, für die das Wort zählte", sagt er und erzählt von seiner Kindheit in der Gastwirtschaft der Eltern in Regensburg.

Geschäfte hätten sie dort stets mit einem Handschlag besiegelt. Genauso habe die Mutter auch die Sache mit dem Sterben abgehandelt. "Bub", habe sie zu ihm gesagt, "Du passt auf, dass es bei mir schnell und schmerzlos geht."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Harry Boedrich darum kämpfte, dass seine Mutter sterben darf.

Schnell und schmerzlos - Harry Boedrich hat den Wunsch seiner Mutter ernst genommen. Erfüllen konnte er ihn nicht. Als die Mutter 2002 mit 91 Jahren einen zweiten schweren Schlaganfall erlitt, sagte er den Ärzten zwar, dass sie nicht lange leiden wolle.

Doch die Mediziner rieten ihm, die Mutter trotzdem künstlich über eine Magensonde ernähren zu lassen. Ihr Zustand könne sich wieder bessern. Der Sohn stimmte hoffnungsvoll zu. Erst später erkannte er, dass die Ärzte zu optimistisch gewesen waren. Und dass die Magensonde für die Mutter zur Falle geworden war.

Sterben durfte sie nicht

Hedwig Boedrich kam nie mehr richtig zu Bewusstsein. Zwar reagierte sie noch auf Töne und folgte mit den Augen, doch es gelang dem Sohn nie wieder, mit ihr zu kommunizieren. Ihr Körper blieb bis auf einen Arm und den Kopf gelähmt. Zwei Gutachter bestätigten im Laufe der Jahre, dass sich der Zustand der alten Frau wohl nie mehr bessern werde. Doch sterben durfte sie auch jetzt nicht.

Wann ist die Lebenszeit eines Menschen abgelaufen? Wann ist der Moment gekommen, in dem auch Ärzte vom Bett des Kranken zurücktreten und das Sterben zulassen müssen?

Harry Boedrich glaubt, dass dieser Moment für seine Mutter spätestens 2005 gekommen sei. In dem Jahr passiert im Pflegeheim ein Unfall. Eine der Schwestern lässt die alte Frau beim Waschen fallen. Sie bricht sich beide Beine. Die Ärzte des Münchner Rotkreuzklinikums, in das ein Notarzt die Patientin bringt, weigern sich, sie zu operieren. Sie werde ohnehin nie mehr laufen können, und die Narkose sei für sie lebensgefährlich. Da ist für den Sohn klar: "Das hätte meine Mutter nie gewollt."

Der Hausarzt, den er mit seinen Gedanken konfrontiert, stimmt ihm grundsätzlich zu. Doch er will die Ernährung nicht ohne Zustimmung des Gerichts beenden - eine Formalie, die, wenn sich Arzt und Betreuer einig sind, rechtlich nicht nötig ist. Für Hedwig Boedrich ist sie die erste von mehreren fatalen Entscheidungen, die bewirken, dass sie weiterleben muss.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum sich fast kein Krankenhaus gefunden hat, das Hedwig Boedrich weiterbehandelt hat.

Frau Boedrich liege nicht im Sterben, befindet das Vormundschaftsgericht München in einem Schreiben im April 2006 und weist den Wunsch des Sohnes, die Ernährung einzustellen, ab. Sie sei vielmehr "schwer pflegebedürftig" und auf "liebevolle Zuwendung" angewiesen. Bei einem zweiten Anlauf im Juli 2007 entzieht das Gericht dem Sohn gleich ganz die Betreuung.

"Eine Fehlentscheidung des Gerichts"

Dabei wird ihm zum Verhängnis, dass er bei seinem ersten Antrag fälschlicherweise angegeben hatte, seine Mutter liege im Wachkoma. Da er den Gesundheitszustand der Mutter so schlecht kenne, wisse er womöglich auch nichts über ihren Willen, habe der Richter argumentiert, erinnert sich Boedrichs Anwältin Beate Steldinger von der Münchner Medizinrechtskanzlei Putz und Steldinger.

Bei dem Gedanken an die Abfuhr, die er vom Richter erhielt, reißt Boedrich heute noch ungläubig die Augen auf. Er ist ein ruhiger Mann, doch die Entscheidung hat ihn erschüttert. "Eine Fehlentscheidung des Gerichts", sagt auch Anwältin Steldinger. Sie kennt den geballten Unverstand, der bei vielen Richtern und Ärzten beim Thema Sterben herrscht.

Die Anwältin weiß auch, dass 30 Prozent der Vormundschaftsrichter die Rechtslage falsch einschätzen und entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Leben um jeden Preis verteidigen. "Was muss denn noch eintreten, damit ein alter Mensch sterben darf?", fragt sie. Bei Hedwig Boedrich musste noch vieles passieren.

Es ist nicht nur das Gericht. Auch das Münchner Marienstift, in dem die alte Frau wohnt, wehrt sich dagegen, die Ernährung zu beenden. Das Pflegeheim ist da keine Ausnahme. Tatsächlich protestieren gerade Heime häufig gegen ein Ende der Ernährung, weil es die Pfleger demoralisiere. Auch verdienen sie an Bewohnern, die künstlich ernährt werden müssen, besonders gut - monatlich etwa 4000 Euro. Im Marienstift hat das aber wohl keine Rolle gespielt. "Es ist ein gutes Heim", betont der Sohn.

Dennoch hat das Heim dazu beigetragen, das Sterben hinauszuzögern, weil es die Sondenernährung in all den Jahren nie in Frage gestellt hat. "Wir waren an die Anweisungen des Arztes und des Gerichts gebunden", sagt die Leiterin des Stifts, Liliane Perovic-Schneider. Das Vorgehen des Sohnes hat sie irritiert: "Er hat nie mit uns gesprochen und dann nach drei Jahren das Gericht eingeschaltet." Auch habe die alte Frau sich eben nicht in einer akuten Sterbephase befunden.

Der Tod kann Erlösung sein

Kommunikationsprobleme gibt es auch zwischen dem Sohn und dem Arzt. "Ich kannte den Willen der Patientin nicht, darum habe ich weiterbehandelt", sagt der. Argumente, die Anwältin Steldinger nicht gelten lässt. Es gehe nicht nur um den Willen der Patientin, sondern auch um die Frage, welches Ziel der Arzt mit der Behandlung verfolge. Nicht nur den Abbruch einer Behandlung, auch ihre Fortsetzung müsse er begründen. "Eine Magensonde ist ein medizinischer Eingriff, sie ist nur erlaubt, wenn erstens der Patient zustimmt, und zweitens der Arzt ein Behandlungsziel nennen kann." Was aber war das Therapieziel, wenn nichts als die pure Leidensverlängerung dabei herauskam?

Was dann passiert, scheint der Juristin recht zu geben: Im August 2007 bricht die Magensonde. Der Hausarzt hatte immer gesagt, dass er in diesem Fall keine neue Sonde legen würde. Auch die Ärzte im Krankenhaus Dritter Orden weigern sich, weil sie darin keinen Nutzen mehr sehen. Der Sohn will schon aufatmen, da entscheidet der vom Gericht bestellte Betreuer, die Patientin in eine andere Klinik zu verlegen. Im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder finden sich Ärzte, die eine neue Sonde legen.

"Wie kann es sein, dass eine 97-jährige Frau durch halb München gekarrt wird, bis sich ein Krankenhaus findet, das noch weiterbehandelt", fragt Steldinger. Sie rät dem Sohn in Berufung zu gehen. Am 26. Februar kommt es zur Verhandlung vor dem Landgericht MünchenI. Die Richter setzen den Sohn wieder als Betreuer ein. Die Frage der Ernährung aber weisen sie in die erste Instanz zurück. Der Sohn muss auf eine neue Verhandlung warten.

Doch diesmal kommt die Mutter allen zuvor. Im April bekommt sie Fieber und stirbt. Der Tod kann Erlösung sein. Für Hedwig Boedrich war er am Ende vielleicht sogar ein kleiner Sieg.

© SZ vom 21.6.2008/segi - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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