Spitzenkandidaten Ringstorff und Seidel:Zwei Temperamente aus Schwerin

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Rote Laternen und andere Langweiler - der Ministerpräsident und sein Herausforderer tun sich im Kampf um die Aufmerksamkeit der Wähler schwer.

Von Arne Boecker

Nanu, was ist denn in den Kandidaten der Konservativen gefahren? Schnappt sich das Mikrofon, bespricht sich kurz mit dem Gitarristen und röhrt dann los: "Mamy Blue" von Ricky Shayne. Der Kandidat windet seinen Oberkörper vor Liebesschmerz, die Stimme ist rau wie ein Reibeisen. Man ahnte gar nicht, wie viel Soul in diesem Schlager aus den Siebzigern steckt. Gestatten? Jürgen Seidel, 58, CDU. Die Rockröhre will Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern werden.

Und ist dies wirklich der bedächtige Landesvater, der da spricht? "Wir wol-len die-sen Schieß-platz NICHT!", ruft er. Der Zeigefinger trommelt auf dem Pult den Takt. Begeistert jubelt ihm die Menge zu. Dies ist Harald Ringstorff, 66, SPD. Der Einpeitscher will Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern bleiben.

Jürgen Seidel als "Angela Merkels Filialleiter"

Beide Szenen stammen aus dem Wahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern. Beide zeigen jedoch die Ausnahme, nicht die Regel. Jürgen Seidel legte seine Seele zum Ende einer feucht-fröhlichen Dampferfahrt mit Parteifreunden frei; Harald Ringstorff ließ sich vom Furor jener mitreißen, die im naturbelassenen Grenzland zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg gegen einen Truppenübungsplatz aufmarschierten. Nein, die Wahrheit über diesen Wahlkampf ist eine andere: Die schwere Politikmaschine, die sich durch die Dörfer wälzt, wird durch Routine angetrieben. Die wenigen Menschen, die trotzdem zum Zuschauen kommen, wirken müde, unendlich müde. Am übernächsten Sonntag geht Mecklenburg-Vorpommern zur Wahl.

Wenn Jürgen Seidel am Rednerpult steht, ist von der Hingabe, mit der er "Mamy Blue" röhrt, nicht viel übrig. Als "Angela Merkels Filialleiter", verspottet ihn der SPD-Landesvorsitzende Till Backhaus in Anspielung darauf, dass die Kanzlerin aus Seidels Landesverband stammt. Das alles überragende Thema in Mecklenburg-Vorpommern ist die hohe Arbeitslosigkeit. Neue Ideen, neue Konzepte hat Jürgen Seidel - bis auf ein bisschen Kombilohn - aber nicht zu bieten: "Wir tragen bei der Arbeitslosigkeit die rote Laterne in Deutschland", schimpft er und schiebt trotzig hinterher: "Ich will das nicht mehr!"

Seidel muss in diesem Wahlkampf beweisen, dass er über genauso viel Autorität verfügt, wie sie seinem Konkurrenten Harald Ringstorff zugeschrieben wird. Also fordert er mit Verve, dass in den Schulen nicht mehr geraucht werden darf. Dreimal schon sind Vorstöße der Landtags-CDU an der Regierung zerschellt. Das Rauchverbot stärke die Stellung der Lehrer, sagt Seidel, was heutzutage dringend nötig sei. An keiner Stelle seiner mäandernden Wahlkampfrede erhält er mehr Beifall. Die Menschen in Mecklenburg und Vorpommern, zutiefst verunsichert durch die vergangenen sechzehn Jahre, wollen Sicherheit - und wenn die nur darin besteht, vom Anblick rauchender 15-Jähriger verschont zu werden.

Am interessantesten ist Jürgen Seidels Wahlkampf da, wo er sich Mecklenburg-Vorpommern als "offene Gesellschaft" wünscht. Aus ihm spricht in diesem Moment weniger der Politiker als der Touristiker - Seidel war lange Präsident des Tourismusverbandes. Wenn man ihn fragt, ob die Mecklenburger und Vorpommern sich denn wirklich eine "offene Gesellschaft" wünschen, entfährt ihm zunächst ein tiefer Seufzer. Pause. Dann: "In diesem Punkt müssen wir wohl noch hart an uns arbeiten." Das ist der ehrlichste Kommentar, den man dieser Tage von einem Politiker zu diesem sensiblen Thema bekommen kann.

Jürgen Seidel ist 1971 in die DDR-Blockpartei CDU eingetreten - natürlich nicht wegen deren Programm, sondern, um der SED fernbleiben zu können. Im Rat des Kreises Waren hat er sich erst um die Wasserwirtschaft, dann um das Erholungswesen gekümmert. Nach dem Mauerfall gehörte er von 1994 bis 1998 als Umwelt- und als Wirtschaftsminister CDU-geführten Landesregierungen an. "Mitte der Neunziger erschütterte die Werftenkrise das Land bis ins Mark", erinnert er sich.

Ringstorff hat auch kein Rezept gegen Arbeitslosigkeit

In jener Zeit keimte der Verdacht, dass sich die Sache mit den blühenden Landschaften im Nordosten noch ein bisschen hinziehen würde. Eigentlich hatte Seidel mit der Schweriner Politik abgeschlossen, als er sich 2001 zum Landrat in seiner Heimat an der Müritz wählen ließ. Im vergangenen Jahr bekniete ihn eine Spitzenkandidaten-Findungskommission der CDU aber so lange, bis er schwach wurde und doch noch zusagte.

Auch Harald Ringstorff ist kein begnadeter Redner, und ein Rezept gegen die Arbeitslosigkeit hat er ebenfalls nicht in der Tasche. Die Wirtschaft muss halt in Gang kommen, der Rest ergibt sich dann schon irgendwie. Aufbruch und Dynamik verkörpert Ringstorff genau so wenig wie Jürgen Seidel. Am überzeugendsten ist er, wenn seine achtjährige Erfahrung als Regierungschef durchschimmert.

Als ihn in einem Stralsunder Einkaufszentrum Bürger befragen dürfen, ist er auf allen Gebieten firm, egal ob es um den Nothafen "Darßer Ort" geht oder die Auswirkungen der Entsenderichtlinie der Bundesregierung auf die Fliesenleger-Branche in Anklam. Am Samstag reagierte Harald Ringstorff dann darauf, dass Jürgen Seidels Rauchverbot-Suada auf so viel Zustimmung gestoßen war. Von 2007 an solle in den Schulen des Landes nicht mehr geraucht werden. Er, Ringstorff, werde diese Angelegenheit zur Chefsache machen.

Der gelernte Chemiker Ringstorff, der in der DDR zuletzt die Rostocker Außenstelle "Schiffsfarben Küste" eines Kombinats geleitet hatte, steht für das Experiment Rot-Rot. 1998 hatten sich SPD und Linkspartei/PDS zur bundesweit ersten Koalition auf Länderebene zusammengetan. Seitdem hält Ringstorff den Laden mit einer Mischung aus natürlicher Autorität und kluger Moderation am Laufen. Auch wenn sich die Befürchtung, die Linkspartei/PDS werde im Nordosten dem Sozialismus doch noch zum Sieg verhelfen, nicht bewahrheitet hat, ist das Land in den vergangenen acht Jahren nicht vorangekommen.

Vor diesem Hintergrund beschleicht sogar Ringstorffs Stellvertreter Wolfgang Methling von der Linkspartei/PDS Unwohlsein, wenn er ein Wahlplakat der SPD betrachtet: Es zeigt Ringstorff über dem Slogan "Den Erfolg fortsetzen". Im Unterschied zum Koalitionspartner, so Methling, wolle seine Partei durchaus auch das benennen, "was uns in den vergangenen Jahren nicht gelungen ist".

Die Gewinnerin heißt PDS

Auch Harald Ringstorff wollte eigentlich zur Landtagswahl 2006 nicht mehr antreten. Schon vor ein, zwei Jahren hätte ihn eigentlich der SPD-Vorsitzende und Agrarminister Till Backhaus ablösen sollen. Der aber hat seine Partei durch so viel Wuseligkeit erschreckt, dass er im behäbigen Nordosten nicht mehr vermittelbar erschien. Weder in der CDU noch in der SPD drängen Talente nach vorn: So gesehen treten am 17.September mit Seidel und Ringstorff zwei Notlösungen gegeneinander an.

Die Umfragen sehen SPD und CDU gleichauf. Wenn es tatsächlich so kommt, haben die Sozialdemokraten gegenüber der Landtagswahl von 2002 zehn Prozentpunkte verloren, während die CDU einen Punkt einbüßen würde. Ein überzeugendes Votum für die großen Parteien sähe anders aus, zumal die rechtsextreme NPD in den Umfragen oberhalb der Fünf-Prozent-Grenze liegt.

Weil die Linkspartei/PDS wiedererstarkt aus der Wahl hervorgehen dürfte, deutet einiges auf eine dritte Legislaturperiode von Rot-Rot hin. Doch egal in welcher Konstellation die Parteien letztlich zusammenfinden: Vor ihnen liegen schwierige Jahre. Von 2008 an sinken die Mittel, die Mecklenburg-Vorpommern aus dem Solidarpakt II zufließen. Wer immer dann in der Schweriner Staatskanzlei sitzt, wird ein paar neue, überzeugende Ideen mitbringen müssen.

© SZ vom 5.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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