Spesenskandal in Großbritannien:Britische Eigenarten

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Das britische Unterhaus ist ein Mikrokosmos der Andersartigkeit - mit den Schrullen und Skurrilitäten hat sich eine eigene Kultur herausgebildet. Und die bleibt auch im Skandal.

Wolfgang Koydl

Es ist ein himmelschreiender Skandal: Abgeordnete, die sich schamlos bereichern, die überhöhte Spesen abrechnen und Familienangehörigen Pöstchen zuschanzen, und über denen ein Parlamentspräsident thront, der seine vorrangige Aufgabe darin sieht, die Aufdeckung dieser Unsitten nach Kräften zu verhindern. Und was geschieht, wenn eine Zeitung diese trüben Zustände enthüllt? Nichts. Kein Aufschrei, kein Protest der Wähler, keine Abscheu gegenüber der politischen Klasse.

Im Moment ist mehr Schatten als Licht über den heiligen Hallen des Parlaments. (Foto: Foto: Reuters)

Die Rede ist nicht vom Spesenskandal von Westminster, sondern von einer ähnlichen Affäre, in die das Europa-Parlament verstrickt war, jene Volksvertretung, die in zwei Wochen gewählt wird. Die Parallelen reichen bis ins Detail. Sogar die Zeitung mit den Exklusivberichten ist dieselbe. Doch derweil der Daily Telegraph in London Respekt einheimste, wurden seine Brüsseler Enthüllungen dort als verwirrte Ausfälle eines notorischen Euro-Skeptikers belächelt.

Dies aber zeigt, dass wichtiger als die Ähnlichkeiten die Unterschiede sind. Denn so anrüchig die Unterschleifpraxis der Unterhausabgeordneten war, so widerwärtig die Selbstgerechtigkeit hinter der Selbstbedienungsmentalität, so erfrischend brutal sind die Kräfte, die nun eine umfassende Reform erzwingen. Briten mögen in Traditionen verliebt sein; doch sie sind gleichzeitig bereit, Überkommenes auch gnadenlos abzuschaffen.

Anders und stolz darauf

Großbritannien war schon immer anders als andere Länder, und bis heute zelebriert es diese Andersartigkeit mit Stolz und Inbrunst. Briten fahren auf der linken Straßenseite, kippen Milch in ihren Tee, schmieren einen an industriellen Klebstoff erinnernden Hefeextrakt auf den Frühstückstoast und halten sich eine Monarchie, die vom eigenen Selbstverständnis und dem der Untertanen her fest im 19. Jahrhundert verankert ist. Briten werden von Richtern in Perücken abgeurteilt, sie betreiben Sportarten wie Cricket, die für Außenstehende undurchschaubar sind, und nach ihrem seelischen Navigationsgerät liegt Neuseeland allemal näher als die Niederlande.

Das Unterhaus ist gleichsam ein Mikrokosmos dieser Andersartigkeit. Seine Abgeordneten sitzen nicht in einem Amphitheater, sondern wie in einer mittelalterlichen Schlachtanordnung einander gegenüber. Vor den Bänken - den Luxus eines eigenen Stuhls kennen die Honorable Gentlemen und Ladies nicht - verläuft ein roter Strich im Teppich, den kein Redner übertreten darf.

Er markiert den Abstand zweier Säbellängen und sollte blutige Gefechte verhindern. Noch immer gehört zur Grundausstattung, die neugewählte Abgeordnete ausgehändigt bekommen, ein rosa Band, an dem der Degen in der Garderobe aufgehängt werden soll. Aktentaschen dürfen nicht mit in die Kammer genommen werden; quasi zum Ausgleich steht neben dem Eingang eine Schnupftabaksdose, aus der jeder Parlamentarier eine Prise nehmen darf.

Mit diesen Schrullen und Skurrilitäten hat sich eine eigene Kultur herausgebildet - halb Hogwarts mit pöbelnden Pennälern, halb Altherrenclub mit archaischen Regeln. Aber das Kernproblem, die zunehmende Entfremdung der Wähler von ihren Repräsentanten, ist genauso wenig eine britische Erscheinung wie die Phantasie, mit der Abrechnungen frisiert werden.

Vorsicht ist angesagt

Missmut über die politische Klasse empfinden Wähler in allen westlichen Demokratien, und was Spesen angeht, so lag jener Unterhausabgeordnete gewiss nicht ganz falsch, der einen BBC-Reporter anblaffte, wie er sich denn wohl fühlen würde, wenn man seine Reiseabrechnungen überprüfe, für die schließlich auch der Steuerzahler mit seinen TV-Gebühren geradestehe.

Vorsicht ist also geboten, bevor man mit dem Finger nach Britannien zeigt. Hinzu kommt - wie der Vergleich mit dem Europa-Parlament zeigt -, dass das Unterhaus gerade wegen seiner Geschichte, seines Selbstbewusstseins und seiner Absonderlichkeiten in einer besseren Position als andere Volksvertretungen ist, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Die Sitzanordnung in der Kammer mag konfrontativ sein, aber sie erschwert den kuscheligen Konsens und fördert die offene Debatte.

Das Mehrheitswahlrecht mag kleine Parteien benachteiligen, aber es verhindert, dass umstrittene Kandidaten auf Parteilisten versteckt ins Parlament geschmuggelt werden. Und der blanke Zynismus von Öffentlichkeit und Medien mag zart besaitete Kontinentaleuropäer abstoßen, aber er hält sich nicht lange mit selbstquälerischen Diagnosen auf, sondern setzt gleich dort das Skalpell an, wo amputiert werden muss.

Der ruhmreiche Beiname von der Mutter der Parlamente klingt in diesen Tagen wie Hohn. Doch die politische Klasse in Britannien hat jetzt die Chance zur Selbstreinigung und Entschlackung. Voraussetzung freilich ist, dass die Briten bei diesem Prozess der Erneuerung sich jene Eigenarten bewahren, die ihre Stärken sind. Ein abschreckendes Beispiel haben sie vor Augen: Das Schlimmste, was ihnen widerfahren könnte, wäre die Wandlung zu einem ganz gewöhnlichen kontinentaleuropäischen Parlament ähnlich jenem Tourneetheater, das für teures Geld zwischen Brüssel und Straßburg hin und hertingelt - natürlich auf Kosten der Steuerzahler.

© SZ vom 22.5.2009/vw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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