SPD in Sachsen:Leipziger Häuserkampf

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Den sächsischen Sozialdemokraten gehen langsam die Wähler aus. Schon ein Jahr vor der Landtagswahl sucht sie daher Bügernähe an der Wohnungstür - auch in Problemvierteln.

Von Ulrike Nimz, Leipzig

Es wird ja alles nicht leichter. Auch nach Monaten fühlt es sich noch an wie ein Streich, nur dass Weglaufen keine Option ist. Daniela Kolbe drückt den untersten Klingelknopf, wartet. Als sich niemand meldet, drückt sie den Knopf darüber. Nicht zu lange, das wirkt aufdringlich. Nicht zu kurz, dann glauben die Leute an einen Irrtum. Die Sprechanlage knackt. Eine Männerstimme fragt: "Ja?" Es klingt, als sei da gerade jemand aufgewacht. Kolbe sagt ihren Satz: "Guten Tag, ich bin Bundestagsabgeordnete der SPD. Haben Sie kurz Zeit für ein paar Fragen?" Schweigen, Räuspern, dann summt die Tür.

Es ist heiß in Neustadt-Neuschönefeld. Wer nicht an den See gefahren ist, sucht die Kühle der Altbauten. Genau dort will die SPD die Leipziger erwischen, schon ein Jahr vor der Landtagswahl. "Kümmerer" nennen sich die Teams, die zweimal im Monat von Tür zu Tür ziehen, um die Stimmung in der Nachbarschaft zu erfragen, möglichst bei denen, die nicht den Weg in Bürgerbüros und Wahllokale finden.

Dass so ein Wahlkampf nicht mehr nur auf Marktplätzen, sondern auch auf der Türschwelle stattfinden muss, davon sind Parteistrategen überzeugt. Naturgemäß geht es dabei weniger um Stimmung als um Stimmen. Und weil es von denen für die SPD bei der Bundestagswahl nicht übermäßig viele gab, haben die Genossen beschlossen, auch danach nah am Bürger zu bleiben. Heute laufen sie zu viert die Mariannenstraße ab, eine Parallelstraße der berüchtigten Eisenbahnstraße, bewaffnet nur mit Gummibärchen.

Die SPD hat einen Knigge für Hausbesuche: nicht nach 20 Uhr klingeln, kein schlechtes Wort über den politischen Gegner. Sonnenbrille, Zigaretten, Kaugummi sind tabu, genauso wie das Betreten der Wohnung. Die Kümmerer gehen immer zuerst ins oberste Stockwerk, läuten sich nach unten durch Leipzigs herrschaftliche Hausflure. Auch in sogenannten Problemvierteln muss niemand verzichten auf Stuckrosetten und Treppengeländer, die aussehen, als endeten sie in einer Kanzel statt vor Schuhregalen voller Flipflops.

Raues Pflaster: Die Gegend um die berüchtigte Eisenbahnstraße ist einer der Orte, an denen die Leipziger SPD Stimmungen und Nöte beim Wahlvolk ergründen will. (Foto: Sebastian Willnow/dpa Picture-Alliance)

Im Erdgeschoss öffnet ein junger Mann die Tür, Irokesenschnitt, Hornbrille. Er schaut wie jemand, der Pizza Hawaii bestellt hat und Anchovis bekommt. Daniela Kolbe stellt die zwei Fragen, die sie noch oft stellen wird an diesem Nachmittag: Wünsche an die Politik? Probleme im Viertel? Der Mann antwortet in fließendem Englisch. Er sei aus Syrien nach Deutschland geflohen und eigentlich froh, hier sein zu dürfen. "Aber die Drogen sind überall", sagt er. Genauso wie die Polizei, die ihn zweimal täglich kontrolliere. Kolbe macht sich Notizen, verweist auf ein anstehendes Bürgergespräch mit dem Polizeipräsidenten, lässt einen Flyer da. Ihr Büro ist nicht weit weg: Rosa-Luxemburg-Straße, Glasfassade, in der Ecke ein ramponierter Pappaufsteller von Martin Schulz, einmal zu oft zusammengefaltet.

Nach Razzien und Rockerkrieg wurde für Leipzigs Osten eine Waffenverbotszone beantragt

Kolbe, 38, hat früher selbst an der Eisenbahnstraße gelebt. Ende der 90er zog sie von Thüringen nach Leipzig, um Physik zu studieren. Heute wohnt sie in der Südvorstadt, einem bürgerlichen Ausgeh- und Familienviertel. Warum zieht die Generalsekretärin der SPD Sachsen nicht dort von Tür zu Tür? "Zu vorhersehbar", sagt sie.

Der Leipziger Nordosten ist ein raues Pflaster. Der Migrantenanteil liegt teilweise um die 40 Prozent, immer wieder gibt es Randale, Razzien, Rockerkrieg. Als einzige Kommune Sachsens hat die Stadt eine Waffenverbotszone beantragt. Als im Bundestagswahlkampf eine Leipzigerin dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz während einer TV-Runde von den Gewaltexzessen auf der "arabischen Meile" berichtete, sagte dieser, solche Typen müssten "mal richtig einen auf die Mappe kriegen, damit sie spüren, wer im Land das Sagen hat".

Martin Schulz hat heute nicht mehr viel zu sagen und Daniela Kolbe ihre eigene Meinung. Bei allen Problemen schätzt sie die Lebendigkeit des Viertels, das sich oft Vergleiche mit Berlin gefallen lassen muss. Dort sitzt Kolbe seit 2009 im Bundestag, seit vergangenem Jahr auch im Bundesvorstand der SPD. In letzter Zeit wird sie in Leipzig öfter gefragt, ob sie sich vorstellen könne, Oberbürgermeisterin zu werden. Amtsinhaber Burkhard Jung (SPD) will sich im Herbst zum Chef des Ostdeutschen Sparkassenverbandes wählen lassen. Kolbe sagt, das sei für sie kein Thema, aber der Posten zweifellos einer der reizvollsten im Freistaat.

Partei auf der Schwelle: Daniela Kolbe (links) mit ihrem „Kümmerer“-Team unterwegs in Leipzig. (Foto: Ulrike Nimz)

Leipzig ist ja nicht irgendeine Stadt, sondern die Wiege der SPD. Hier hat sich die Partei 1863 gegründet. 155 Jahre später ist der Volkspartei das Volk abhandengekommen. In Kolbes Wahlkreis kam die Partei bei der Bundestagswahl auf 12,9 Prozent. Die jüngste Umfrage sieht die Sozialdemokraten in Sachsen bei neun Prozent, erstmalig einstellig. Der Leipziger Stadtverband wird von immer neuen Querelen erschüttert: Vergangene Woche trat der Vorsitzende Hassan Soilihi Mzé zurück, sprach von einem "feindseligen Klima". Zwei Tage zuvor hatte Jens Katzek, Vorstandsmitglied, bei Facebook ein Porträt von sich gepostet, darunter war zu lesen: "Auch ich bin ein Rassist!" Was der erfolglose Bundestagskandidat damit sagen wollte: Wenn die Parteivorsitzende Andrea Nahles wegen ihres Wir-können-nicht-jeden-aufnehmen-Satzes als Rassistin gelten soll, bin auch ich einer. Sollte Ironie im Spiel gewesen sein, blieb sie unbemerkt. Unter den knapp 300 Kommentaren war auch einer Kolbes: "Ich denke nicht, dass du hier für die SPD sprichst, und erwarte, dass du mindestens das SPD-Logo entfernst. Deine Generalsekretärin."

In Neustadt-Neuschönefeld muss Kolbe an diesem Tag nicht erklären, warum ihre Partei bisweilen so wirkt, als wolle sie den Karren nicht aus dem Dreck ziehen, sondern über die Klippe jagen. Mancher Briefkasten sieht aus, als würde Hulk die Post austragen, eine Tageszeitung steckt in keinem. Ein Mann öffnet nur in Unterhose. Sein massiger Körper füllt den Türrahmen, die Schultern sind behaart. Es wirkt, als trage er flauschige Rangabzeichen. Er sei Ukrainer, sagt der Mann, Transferfahrer für Gebrauchtwagen, seit 18 Jahren in Deutschland. Er fühle sich wohl im Quartier, wenn da nicht die vielen Schwarzen wären. Daniela Kolbe schreibt wortlos etwas in ihre Kladde, sagt freundlich auf Wiedersehen. Widerspruch ist nicht vorgesehen im Kümmerer-Format. Zwei Stockwerke höher öffnet eine Frau mit Kopftuch. Ein Mädchen umschlingt deren rechtes Bein wie den Stamm eines Baumes, übersetzt Kolbes Fragen simultan. Die Frau lächelt und streichelt der Kleinen über den Kopf. Dann schließt sie in Zeitlupe die Tür.

Die drängendsten Probleme einer WG: Antisemitismus und fehlende Tischtennisplatten

Die meisten Menschen in der Mariannenstraße sind verdutzt, dass man sie nun persönlich nach der Politik im Land fragt, aber verdrossen sind sie nicht. Wenn sie reden wollen, dann über Themen, die der SPD nahe sind: steigende Mieten, Hartz IV. In einer WG, in der jede Wand eine andere Farbe hat, kommt als Antwort auf die Frage nach Problemen: "Antisemitismus und fehlende Tischtennisplatten".

Längst zieht es auch Kreative in den Leipziger Osten, weil die Quadratmeterpreise immer noch niedriger sind als anderswo und die Freiräume größer. Man trifft auf Designer von Holzsonnenbrillen. Man trifft sich im "Nebenan", einer dieser leuchtenden Wohnzimmerkneipen, in denen noch geraucht werden kann, bis sich die Tapete kräuselt. Es gibt Leute, die sagen, Leipzigs Osten ist der einzige Ort, der sich wie Großstadt anfühlt. Es gibt Leute, die sagen, dieses Viertel ist alles, was schiefläuft in Deutschland. Nun kann man die Weggezogenen nicht mehr fragen. "Aber man kann die Hiergebliebenen besuchen, regelmäßig", sagt Daniela Kolbe. Für heute machen die Kümmerer Schluss. Die "Tagesschau" markiert die Grenze zwischen Volksnähe und Ruhestörung. Im Hof des letzten Hauses flitzen drei Kinder nackt um ein Planschbecken. Auf der Fußmatte steht "Home sweet home".

© SZ vom 16.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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