SPD-Debakel:Ypsilanti "maßlos enttäuscht"

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Vier hessische Abgeordnete kippen Ypsilantis Pläne für eine rot-grüne Koalition - für die Kandidatin "sehr überraschend". Roland Koch ist der Gewinner.

Der Machtwechsel in Hessen ist gescheitert. Einen Tag vor der geplanten Wahl Andrea Ypsilantis zur Ministerpräsidentin kündigten der SPD-Landesvorsitzenden am Montag vier Abgeordnete aus der eigenen Partei die Gefolgschaft. Da sie damit nur noch auf 53 statt der erforderlichen 56 Stimmen bauen könnte, wurde die für Dienstag geplante Sondersitzung des Landtages zur Wahl Ypsilantis zur Ministerpräsidentin abgesagt.

Ypsilanti zeigte sich "maßlos enttäuscht". Der SPD-Landesvorstand stellte sich nach den Worten von Vize-Landeschef Manfred Schaub am Abend geschlossen hinter die 51-Jährige.

Die Entscheidung von Vize-Landeschef Jürgen Walter sowie den Parlamentarierinnen Dagmar Metzger, Carmen Everts und Silke Tesch sei für sie "sehr überraschend" gekommen, sagte Ypsilanti nach einer Sitzung des SPD-Landesvorstandes. Auch all jene, die in Hessen auf einen Politikwechsel gehofft hätten, müssten "von diesen vier Personen" enttäuscht sein.

Schwerer Gewissenskonflikt

Bei den vier Abtrünnigen handelt es sich um den als Ypsilanti-Rivalen geltenden stellvertretenden SPD-Landesvorsitzenden Jürgen Walter, die Darmstädter Abgeordnete Dagmar Metzger sowie die ebenfalls zum rechten Flügel zählenden Parlamentarierinnen Carmen Everts und Silke Tesch. In einer Pressekonferenz erklärten sie unisono, sie könnten nach einem schweren Gewissenskonflikt die geplante Bildung einer auf die Stimmen der Linken angewiesenen rot-grünen Minderheitsregierung nicht mittragen.

Deshalb würden sie Ypsilanti nicht wählen. Ihr Landtagsmandat wollten sie aber behalten und der SPD-Fraktion ihre weitere Mitarbeit anbieten, sagte Everts. Walter, der am Samstag auf dem SPD-Landesparteitag in Fulda bereits gegen den Koalitionsvertrag gestimmt hatte, sprach von der schwierigsten politischen Entscheidung seines Lebens. Er wisse, was sein Schritt bedeute und klebe nicht an Ämtern, doch werde er nicht von selbst aus der SPD austreten. Er sei jetzt mit sich im Reinen.

Als heimlicher Sieger darf sich der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) fühlen. Er will nach dem Scheitern seiner SPD-Rivalin Andrea Ypsilanti Möglichkeiten einer Regierungsbildung mit den anderen Parteien ausloten. Dafür gebe es aber nur ein "sehr enges Zeitfenster", sagte der CDU-Politiker in Wiesbaden. Wenn es nicht in kurzer Zeit zu Lösungen komme, seien Neuwahlen aus seiner Sicht unausweichlich.

Koch sprach von Gesprächen mit den "demokratischen Parteien", zu der er die Linke nicht zählt, also mit SPD, FDP und Grünen. Zugleich zollte er den vier SPD-Abgeordneten Respekt, die sich der Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung mit Hilfe der Linkspartei verweigert haben. Eine Lösung müsse jetzt nicht binnen 24 Stunden gefunden werden, wohl aber in überschaubarer Zeit. Die demokratischen Parteien hätten eine Verantwortung. Wenn sie den von den Bürgern gewünschten Weg zu Neuwahlen nicht gehen wollten, müssten sie schnell andere "belastbare" Lösungen finden, so Koch.

"Noch sind das alles gewählte Abgeordnete der SPD"

Die SPD-Führung in Berlin ist von der Entwicklung in Hessen völlig überrumpelt worden. Es habe im Präsidium "ungläubiges Erstaunen" gegeben, hieß es aus Kreisen von Sitzungsteilnehmern. Mit dem Vorgehen der vier hessischen Parteifreunde habe niemand gerechnet. Ihr Verhalten wurde in der Sitzung als "seltsam und nicht loyal" bezeichnet. Teilnehmer verwiesen aber auch darauf, dass es sich um frei gewählte Parlamentarier handele.

Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering bezeichnete den gescheiterten Machtwechsel in Wiesbaden als "schweren Schlag" für die hessische SPD. Im SPD-Präsidium habe die Nachricht am Montagvormittag eine "Mischung aus Betroffenheit und Empörung" ausgelöst, sagte Müntefering. Die Bundes-SPD werde jetzt versuchen zu helfen. Auf den Bundestagswahlkampf werde die Entscheidung in Hessen jedoch "keinen Einfluss haben". "Es wird eine Zusammenarbeit der SPD mit der Linken auf Bundesebene nicht geben. Definitiv."

Mit Blick auf die vier SPD-Abgeordneten sagte Müntefering: "Es gibt keine größere Verantwortung als die der gewählten Abgeordneten. Und die müssen letztlich entscheiden, wie sie sich verhalten." Zugleich kritisierte Müntefering, dass die vier Abweichler ihre Bedenken erst kurz vor der geplanten Wahl am Dienstag publik machten. "Man schließt keinen aus mit Rufen, da gibt es geordnete Verfahren dafür, da ist es nicht an mir, Empfehlungen zu geben. Noch sind das alles gewählte Abgeordnete der SPD", sagte Müntefering.

Auf der nächsten Seite: Die Koalitionspläne der FDP und weshalb die Linke Müntefering die Schuld an dem Debakel gibt.

Der hessische SPD-Generalsekretär Norbert Schmitt warf den Abweichlern vor, gegen die Grundprinzipen der Solidarität und menschlichen Fairness zu verstoßen. Der Darmstädter Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, Horst Raupp, kündigte in der Frankfurter Rundschau einen Ausschlussantrag gegen die vier an.

SPD-Vorstandsmitglied Hannelore Kraft erklärte in Berlin, sie sei "völlig entsetzt", wie die Abgeordneten mit der Partei umgingen. Es sei "moralisch verwerflich" und unsolidarisch, sich erst nach den ganzen Verfahren in der Partei einen Tag vor der geplanten Wahl zu äußern.

"Fiasko für die gesamte SPD"

Die Linke zeigte sich schockiert. "Das ist ein schwarzer Tag für Hessen", sagt der Fraktionssprecher der hessischen Linken, Thomas Klein. Die Partei machte außerdem die SPD-Spitze um Parteichef Müntefering und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier mit verantwortlich für das Scheitern eines Regierungswechsels in Hessen. Sie habe es an Loyalität und Unterstützung fehlen lassen und damit den rechten Parteiflügel ermutigt, sagte Vorstandsmitglied Ulrich Maurer in Berlin. Wenn die SPD-Führung Andrea Ypsilanti demonstrativ den Rücken gestärkt hätte, wäre es nicht zu den Vorgängen gekommen.

Die Grünen sind bitter enttäuscht von ihrem Wunschpartner. Auf das Scheitern der Pläne für eine neue Hessen-Koalition reagieren sie mit scharfen Angriffen auf die Sozialdemokraten. "Damit verabschiedet sich die hessische SPD für lange Zeit von aktiver Politikgestaltung und hinterlässt einen Scherbenhaufen", schimpft Parteichefin Claudia Roth.

Anlass für Selbstkritik sehen die Grünen nicht. "Die Grünen haben überhaupt nicht zu hoch gepokert", versichert Roth auf die Frage, ob man es der SPD bei der Verteilung der geplanten Ministerposten in Hessen nicht leichter hätte machen können.

Nach Auffassung der FDP ist der misslungene Machtwechsel "ein Fiasko für die gesamte SPD". Erst "vier anständige Sozialdemokraten" hätten offenkundig geschafft, was dem früheren SPD-Chef Kurt Beck und dem jetzigen SPD-Vorsitzenden Müntefering nicht gelungen sei, sagt FDP-Generalsekretär Dirk Niebel in Berlin - "nämlich Wortbruch zu verhindern und der politischen Kultur zum Durchbruch zu verhelfen".

FDP fordert CDU und Grüne zu Gespräch auf

Hessens FDP-Fraktionschef Jörg-Uwe Hahn sprach sich für Neuwahlen aus. "Ich glaube, die beste und sauberste aller Lösungen würde Neuwahlen sein", sagte Hahn in Wiesbaden. Er habe CDU-Chef Roland Koch und Grünen-Chef Tarek Al-Wazir zu einem gemeinsamen Gespräch eingeladen. "Ich habe angeregt, dass wir uns unverzüglich zu einem Sechs-Augen-Gespräch treffen", sagte Hahn. "Ich glaube, dass es sehr klug ist, dass gerade diese drei Persönlichkeiten das Ruder in die Hand nehmen." Ziel müsse sein, dass Hessen schnellstmöglich eine handlungsfähige Regierung bekomme. Die Grünen hätten jetzt eine politische Verantwortung, nachdem sie im Koalitionsvertrag mit der SPD zuvor weit nach links gerückt seien.

SPD-Abweichlerin Everts versicherte, eine Ablösung Kochs sei weiter ihr politisches Ziel. Metzger äußerte die Hoffnung, dass es jetzt zu Gesprächen über eine Regierung der bürgerlichen Mitte ohne Koch komme. Andernfalls "stehen natürlich irgendwann Neuwahlen" an, fügte sie hinzu. Auch Walter appellierte an die Landtagsparteien, aufeinander zuzugehen und den Versuch zu machen, eine Landesregierung ohne die Linkspartei zu bilden.

"Tief zerrissen"

"Ich war und bin innerlich tief zerrissen", sagt Everts. Nach zwanzig Jahren Mitgliedschaft falle die Entscheidung außerordentlich schwer. Es gehe um den Willen der Wählerinnen und Wähler, die eine rot-grüne Minderheitsregierung nicht gewählt hätten und jetzt mehrheitlich ablehnten.

Walter und Tesch bezeichneten es als Fehler, sich nicht schon im März an die Seite Metzgers gestellt zu haben, die von Anfang an eine Zustimmung zur Regierungsbildung mit Hilfe der Linken abgelehnt hatte. Dafür wäre das gebrochene Wahlversprechen, nicht mit der Linken zu paktieren, schon Grund genug gewesen. Tesch fügte hinzu, sie könne auch eine schädliche Wirtschaftspolitik in schwierigen Zeiten nicht mitmachen. Es rumore nicht nur in ihrem Wahlkreis. Metzger zeigte sich erfreut, dass sie in der SPD-Fraktion jetzt nicht mehr alleine stehe.

Auf der nächsten Seite: Jürgen Walter über "Hemmungen", Carmen Everts über "Bauchschmerzen" und Silke Tesch über "innere Zerrissenheit"

Jürgen Walter erklärt: "Ich wurde oft als wankelmütig und inkonsequent kritisiert - zu Recht." Seine "innere Zerrissenheit" habe sein Bild in der Öffentlichkeit bestimmt. Er habe sich aus heutiger Sicht schon im Frühjahr an die Seite von Metzger stellen müssen. Doch er sei "wie gehemmt" gewesen durch das Wissen, dass man ihm dann unterstellen würde, dass er das nur tue, um Andrea Ypsilanti zu schaden, weil er einst gegen sie kandidiert und verloren habe.

Everts erklärt auf Nachfrage, sie und Tesch hätten den Parteitag am Wochenende "mit Bauchschmerzen" verfolgt, daraufhin Walter und Metzger "dazugebeten" und dann die Entscheidung getroffen. Silke Tesch sagte bei der Pressekonferenz, sie habe bei der ersten Probeabstimmung mit "Ja" gestimmt - "ich glaube, das dokumentiert auch ein bisschen meine innere Zerrissenheit". Mehrere Journalisten quittierten dies mit Gelächter.

Einen Austritt aus der SPD planen die vier Abgeordneten nicht. Everts wiederholte, sie hätten der Fraktion weiter "ihre Mitarbeit" angeboten.

Für Neuwahl Landtagsmehrheit erforderlich

Metzger hatte als einzige der 57 Parlamentarier von SPD, Grünen und Linkspartei von Anfang an erklärt, sie wolle Ypsilanti ihre Stimme verweigern, weil sie die geplante Regierungsbildung mit Hilfe der Linken ablehnt. Walter hatte auf dem SPD-Landesparteitag am Samstag bekanntgegeben, dass er den ausgehandelten Koalitionsvertrag von SPD und Grünen ablehnt, sein Verhalten bei der Wahl Ypsilantis aber zunächst offen gelassen.

Rechnerisch möglich wären in Hessen derzeit eine große Koalition ebenso wie eine Ampel aus SPD, Grünen und FDP. Kochs Regierung ist derzeit nur noch geschäftsführend im Amt.

Nach dem Scheitern der geplanten Wahl Ypsilantis wird die geschäftsführende CDU-Landesregierung von Ministerpräsident Roland Koch zunächst weiter im Amt bleiben. Zur Ausrufung von Neuwahlen müsste sich der Landtag mit Mehrheit selbst auflösen. Dazu wären neben den Stimmen von CDU und FDP mindestens auch die der Grünen erforderlich. Koch hat mehrfach erklärt, nach einem Scheitern Ypsilantis werde es nicht automatisch Neuwahlen, sondern zunächst ein "Zeitfenster" für andere Lösungen geben. CDU und FDP haben sich mehrfach für eine Jamaika-Koalition mit den Grünen ausgesprochen.

© sueddeutsche.de/AP/dpa/Reuters/jkr/segi/ihe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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