Sozialpolitik:Das letzte Gefecht der SPD

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Bei der Reform der Agenda 2010 geht es nicht darum, ob und wie an ein paar Stellschrauben der Schröderschen Politik gedreht wird. Es geht darum, die Demokratie zu sichern.

Heribert Prantl

Für seinen labyrinthischen Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" hat Marcel Proust zwanzig Jahre gebraucht. Wenn die SPD für ihre Suche nach der verlorenen Gerechtigkeit genauso lang braucht, wird es sie am Ende nicht mehr geben.

Will das Arbeitslosengeld I länger zahlen: SPD-Chef Kurt Beck (Foto: Foto: AP)

Entweder es gelingt der SPD wieder, als die Partei der sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit anerkannt zu werden - oder die sozialdemokratische Geschichte verweht. Dann wird das Erbe der Kleine-Leute-SPD übernommen von der Linkspartei, das Vermächtnis der Schröderschen Große-Leute-SPD von der FDP; und der diffuse Rest wird aufgekehrt von der CDU und aufgeleckt von den Grünen. Das klingt dramatisch? Das ist dramatisch.

Die Partei hat unter ihrem Kanzler Schröder ihre Identität verloren; ihr fehlen seitdem Geist, Mut, Herz und Sinn. Die Agenda 2010 liegt auf ihr wie eine Grabplatte. Die alten Gegner der Sozialdemokratie stehen mit Genugtuung davor, spritzen Weihwasser und murmeln heuchlerische Lobesworte, die so klingen wie der alte Satz, wonach es süß sei, für das Vaterland zu sterben; die SPD solle deshalb an der Grabplatte ja nicht kratzen und nicht rütteln.

Die Agenda als Grabplatte

Die SPD, so heißt es, habe sich halt im Dienst an den Reformen ehrenvoll verbraucht. In der Tat: In etlichen Bundesländern befindet sich die SPD im Vorstadium der Auflösung; Rheinland-Pfalz, wo der Parteivorsitzende Kurt Beck regiert, gehört zu den wenigen Bundesländern, in denen die Sozialdemokratie noch halbwegs funktioniert.

Becks Plan, das Arbeitslosengeld I zu reformieren, rüttelt zaghaft an der Agenda 2010. Es ist dies der Beginn des Überlebenskampfes der Sozialdemokratie. Die SPD geht mit Beck in das (vielleicht ist es das letzte) Gefecht um ihre Glaubwürdigkeit - ein Gefecht, das sie mit dem Mindestlohn und der Reform des Arbeitslosengeldes zu gewinnen hofft.

Das Problem ist dabei, dass Franz Müntefering, der Kommandeur der Division Mindestlöhner, und Kurt Beck, der Kommandeur der Division Arbeitslose, nicht Seit' an Seit' marschieren, sondern aneinander vorbei. Weil das so ist, kommt auch das Projekt einer anständigen Grundsicherung für alte und erwerbslose Menschen nicht voran, das eine Alternative zur Verlängerung des Arbeitslosengeldes I sein könnte. Statt darüber nachzudenken, wie eine sozialdemokratische Politik aussieht, die diesen Namen verdient, tobt in der SPD ein unsinniger Streit darüber, ob die Agenda 2010 sakrosankt ist.

"Die Reformen wirken", heißt es allenthalben bei denen, die schon vor drei und vier Jahren die Agenda 2010 gepriesen haben, als handele es sich um die zehn Gebote der Globalisierung. "Die Agenda greift", beteuern sie - doch die Olaf Henkels dieses Landes können das noch so oft sagen und dazu ihre Statistiken zitieren: Damit lässt sich das Grundgefühl nicht umdrehen, dass die Agenda 2010 sozial nicht ausgewogen ist.

Dieses Grundgefühl stimmt nämlich. Als Kanzler Schröder im März 2003 seine Agenda vorstellte, machte er noch Andeutungen über Belastungen auch für die wirtschaftlich Starken, klagte über die astronomischen Bezüge von Managern. Die Leute, denen die Agenda zumutet, nach 12 oder 18 Monaten Arbeitslosigkeit ihr kleines Vermögen zu verscherbeln, haben erkannt, dass das Ablenkungsgerede war.

Die Agenda 2010: Es ist bei den Einseitigkeiten geblieben. Die Rutsche in die Armut ist steil und kurz - nach einem, spätestens nach eineinhalb Jahren Arbeitslosigkeit landet man in der Sozialhilfe, die jetzt Arbeitslosengeld II heißt. Der Sozialstaat kassiert privates Kleinvermögen von anständigen Leuten, die nichts dafür können, dass es für sie keine Arbeit gibt.

Hat nicht die Politik die Menschen jahrelang aufgefordert, auch selber Vorsorge für Notfälle zu treffen? Die Agenda 2010 nimmt ihnen bei Eintritt des Notfalls das Ersparte weg. Sie behandelt die Menschen, die sich etwas erspart haben so, als hätten sie nichts geleistet - und stellt sie mit denen gleich, die nicht, wie sie, jahrzehntelang zum Wohl aller beigetragen haben.

Diese Ungerechtigkeit wird nicht dadurch geringer, dass, dank einer guten gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die Wirtschaftsdaten erfreulich sind und die Arbeitslosenzahl sinkt.

Es geht also um die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen der Wirtschaft und dem Sozialen. Der dissonante Dreiklang des Grundgesetzes, das ja Rechtsstaatsidee, Demokratieprinzip und Sozialstaatsgebot vereint, muss wieder harmonisch werden. Das kann der Staat des Grundgesetzes nicht im Ernst der Partei "Die Linke" überlassen.

Die Agenda ist ja nicht eine neue Verfassung; man darf, soll und muss sie wie jedes andere Gesetz prüfen und korrigieren. Wie sieht es aus damit? Die Reform der Bundesagentur für Arbeit scheint geglückt zu sein: Die Arbeitsvermittlung läuft gut, das Haushaltssäckel der Agentur ist gut gefüllt.

Dieser Erfolg aber ist dadurch erkauft, dass diejenigen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, nicht mehr zur Klientel der Bundesagentur zählen; sie werden aussortiert, fallen unter die Heerscharen der Empfänger von Arbeitslosengeld II, deren Zahl stetig steigt. Zu ihnen gehören immer mehr Jugendliche; ihre Arbeitslosigkeit wächst und liegt jetzt über dem Durchschnitt der Gesamtarbeitslosigkeit.

Die Betreuung der Langzeitarbeitslosen ist unzureichend, die Fusion von Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht besonders gelungen. Mit den von der Agenda geförderten Minijobs und den Ich-AGs ist der Niedriglohnsektor gewachsen; in Westdeutschland arbeitet inzwischen ein Viertel der Beschäftigten zu Löhnen, die unter 75 Prozent des Durchschnittseinkommens liegen; in Ostdeutschland sind es sechzig Prozent der Beschäftigen. Gleichzeitig steigen die Kinder- und die Altersarmut. Das ist die Sozialstatistik, die neben die Wirtschaftsstatistik gelegt werden muss.

Drittel-Demokratie

Die Agenda in ihrer gegenwärtigen Form befördert die Dreiteilung der Gesellschaft: Ein Drittel der Gesellschaft ist etabliert und bewegt sich auf relativ hohem Lebensniveau. Im zweiten, wachsenden Drittel dominieren unsichere Lebensverhältnisse; mit Zeitarbeitsverträgen, Minijobs und dem möglichen Fall in die Armut wächst dort die Angst. Das letzte Drittel ist die Armee der angeblich dauerhaft Überflüssigen.

Dieses letzte Drittel ist, wenn man die Zahlen der Wahlbeteiligung betrachtet, für die Demokratie schon fast verloren. Im zweiten Drittel verliert die SPD ihre Klientel. Um das erste Drittel aber drehen fast alle Parteien ihre Pirouetten. Ist das noch demokratische Politik? Es ist jedenfalls keine sozialdemokratische Politik.

Demokratie ist eine Gesellschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet - miteinander! Exklusion verträgt sich nicht mit dieser Gemeinschaftsaufgabe. Soziale Rechte sollen den Zusammenhalt der Gesellschaft wahren. Wenn das nicht mehr Agenda der Politik ist, dann verwahrlost zuerst die Sozialdemokratie und dann die Gesellschaft. Es geht also nicht darum, ob und wie an ein paar Stellschrauben der Schröderschen Reformen gedreht wird. Es geht darum, die Demokratie zu sichern.

© SZ vom 6.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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