Soziales:"Wir haben wirklich Angst"

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Früher Arbeiterstadtteil, jetzt Arbeitslosen-Hochburg: Der Duisburger Stadtteil Marxloh. (Foto: Marcel Kusch/dpa)

Wer kann, zieht weg aus Duisburg-Marxloh. Am Dienstag macht Bundeskanzlerin Angela Merkel dort Station.

Von Bernd Dörries, Duisburg

Jeden Montag singen sie hier auch ein bisschen die alten Zeiten herbei. "Wie im Stahl der Klang, so tönt unser froher Sang". Einmal die Woche probt der ThyssenKrupp-Chor im Hotel Montan in Duisburg-Marxloh, singt von den alten Zeiten, die hier noch bis in die Gegenwart reichen. Es wird ja noch Stahl gekocht in Marxloh. Nur wohnt man dort eben nicht mehr gern. Früher haben sie hier abends gesungen und getrunken. Heute steigen die Mitglieder des Chores nach der Probe in ihre Autos und fahren in die Vororte. Als Stahlarbeiter kann man sich da draußen ein schönes Reihenhaus leisten.

"Gut leben in Deutschland" heißt der Bürgerdialog von Angela Merkel, mit dem sie am Dienstag im großen Saal des Hotel Montan in Duisburg-Marxloh haltmacht - einem Stadtteil, in dem viele nicht mehr leben wollen. Arbeitslosigkeit, Verfall, Bandenkriminalität, Rockerkriege und hohe Zuwanderung. Zwanzig Prozent Arbeitslosigkeit und fast siebzig Prozent Migrationshintergrund. Das sind die Stichworte.

"Die Rechtspflicht des Staates zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit ist in solchen Stadtbezirken langfristig nicht gesichert beziehungsweise akut gefährdet", schrieb die Polizei vor Kurzem in einem internen Bericht. "Wir kommen uns ausgeliefert vor. Und wir haben wirklich Angst", habe einige Bürger in einem offenen Brief an die Kanzlerin geschrieben. Die nimmt sich zweieinhalb Stunden Zeit, stellt sich den Fragen von ausgesuchten Bürgern im Hotel Montan. Es wäre falsch, "wenn man sich als Bundesregierung nicht dorthin bewegt, wo sich Probleme aufgehäuft haben", hat die Kanzlerin vor dem Besuch gesagt.

Die Frage ist, ob sie auch etwas bewegen wird. An Besuchen von Politikern hat es in Marxloh bisher nicht gemangelt, vor Kurzem erst war Sigmar Gabriel im Sozialpastoralen Zentrum Petershof. Dort kämpft und rackert und schuftet Pastor Oliver Potschien gegen Vorurteile und für die medizinische Versorgung von Flüchtlingen aus Südosteuropa, von denen in Duisburg 10 000 keine Krankenversicherung haben. In diesem Jahr bekommt das Zentrum den "Katholischen Preis gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus" der Bischofskonferenz. Und er bekommt viel Besuch aus der Politik, die Probleme aber bleiben: Es fehlt an Medikamenten und Impfstoffen, er muss um Spenden betteln.

Die Bundestagsabgeordnete Kathrin Vogler (Die Linke) hat dem Zentrum neulich wieder eine Einkaufstasche Medikamente organisiert. Sie und sechs andere Politiker der großen Parteien wurden vom WDR eine Woche lang in Marxloh einquartiert; sie sollten Projekte organisieren, die Lage verbessern, in einer Woche (Sendetermin: Montag, 21 Uhr, WDR).

Sie liefen mit einem Jungen aus dem Viertel durch die Straßen, der Junge war ein cooler Typ, der reden konnte. In die Kamera sagte er über Marxloh: "Jeder, der nix hat, wird hier reingeschmissen (. . .) Es ist ein Drecksloch." Wenig später hat er eine blutige Nase, es hat eine Massenschlägerei gegeben. Es wirkt alles sehr hoffnungslos in Marxloh.

Ist es aber nicht unbedingt. Die Straßen sind voller alter Häuser, es gibt eine türkische Mittelschicht, die gerne mehr investieren würde, die aber wartet, wie das Viertel sich entwickelt. Und Marxloh hatte sich ja entwickelt, aber jede Verbesserung war immer fragil, die Errungenschaften bekamen nie die Zeit, sich zu festigen. Weil immer neue Menschen kamen, mit immer neuen Problemen. "Wir waren schon einmal weiter in Marxloh", sagt Heinz Maschke, der Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft Duisburg, die nun wieder ein Stadtteilbüro eröffnen will in Marxloh, um die Projekte zu koordinieren. Denn Projekte gibt es viele, Marxloh hat noch längst nicht aufgegeben.

Aber es gibt eben auch die Angst, die Ungewissheit, ob es sich noch lohnt, etwas aufzubauen. Die Polizei setzt in Marxloh mittlerweile eine Hundertschaft ein. Uwe Heider von der SPD erwartete sich nicht sonderlich viel vom Besuch der Kanzlerin. Vielleicht sei Marxloh an dem Tag etwas sauberer und es sei mehr Polizei unterwegs. Mehr aber auch nicht. Die Schreiber des offenen Briefes hoffen zumindest auf eine ehrliche Bestandsaufnahme. "Wir fänden es ganz schrecklich, wenn Frau Merkel der Eindruck vermittelt wird, dass es hier eigentlich gar nicht so schlimm ist, wie es die Medien darstellen."

© SZ vom 24.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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