Sorge vor Unruhen in der Krise:Der Lärm der Unken

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Deutschland ist ein Hort des sozialen Friedens - für Unruhe sorgen derzeit nur die Befürchtungen, dass sich dies ändern könne. Doch diese Gefahr ist real, denn es gibt kein Ventil mehr für den Zorn.

Heribert Prantl

Es ist, trotz der Krise, noch ruhig in Deutschland. Für Unruhe sorgen derzeit nur die Befürchtungen von DGB-Chef Sommer und Präsidentschaftskandidatin Schwan, es werde womöglich nicht so ruhig bleiben. Die Erregung, die es über diese Äußerungen gibt, offenbart gewisse Zweifel an der Stabilität der Besonnenheit der Bevölkerung.

Demonstranten stehen während einer Demonstration im Berliner Stadtteil Friedrichshain vor dem mobilen Flutlicht der Polizei. (Foto: Foto: dpa)

Die gewissen Zweifel werden genährt von Umfragen über den Vertrauensverlust der Menschen in Wirtschaft, Staat, Politik und Demokratie sowie von den Bildern über Aufruhr in Frankreich; und die gewissen Zweifel münden in die heimlich-bange Frage, ob die deutsche Ruhe womöglich nur die Ruhe vor einem Sturm der Entrüstung und des Aufbegehrens sein könnte.

An diese besorgte Frage knüpft sich eine zweite: Genügt es, sich provozierende Unkenrufe wie die von Sommer und Schwan zu verbitten - oder braucht es ein beherztes politisches Handeln zur sozialen Befriedung einer beunruhigten Bevölkerung? Das ist der Hintergrund des Streits über ein drittes Konjunkturpaket.

Die Bundesrepublik war jahrzehntelang ein Hort des sozialen Friedens. Streik und Aufruhr sind, anders als in Frankreich, kein Teil der Nationalkultur, und das Vertrauen darauf, man könne Dinge, die in der Arbeitswelt schieflaufen, über den Druck der Straße regeln, ist hierzulande nicht ausgeprägt. Grund dafür sei die "typisch deutsche Konfliktscheu" heißt es oft. Das stimmt nicht unbedingt: In den Zeiten der Weimarer Republik war das Konfliktniveau unglücklicherweise so hoch wie in den streikreichsten Zeiten Italiens.

Nicht die Polizei und nicht die Justiz waren jahrzehntelang Garant des inneren Friedens in der Bundesrepublik; nicht Strafrechtsparagraphen und Sicherheitspakete haben für innere Sicherheit gesorgt. Es war der Sozialstaat: Er war Fundament der wirtschaftlichen Prosperität, Geschäftsgrundlage für gute Geschäfte; er verband politische Moral und ökonomischen Erfolg.

Der Sozialstaat hat soziale Gegensätze entschärft, ohne ihn hätte es öfter gekracht in der Republik. Sozialstaat heißt: Der Staat bürgt für die soziale Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger. Soziale Unruhe ist dann zu befürchten, wenn die Bürger an diese Bürgschaft nicht mehr glauben - womöglich in der Befürchtung, dass sich der Staat in Bürgschaften für die Banken verbraucht.

Dass die Bundesrepublik bisher ein streik- und aufruhrarmes Land ist, liegt an drei glücklichen institutionellen Arrangements. Es gibt erstens eine ordentliche betriebliche Mitbestimmung; zweitens eine funktionierende Arbeitsgerichtsbarkeit; drittens ein ausgebautes Sozialversicherungssystem.

"Fresst doch Gras"

Das Streikrecht musste deshalb vergleichsweise selten in Anspruch genommen werden, aber es war trotzdem ungeheuer wichtig: Seine Bedeutung maß sich nämlich nicht an der Zahl der Streiks, sondern an seinem Drohpotential: das Streikrecht machte die Arbeitnehmer, solange die Wirtschaft gut lief, zum respektierten Verhandlungspartner der Arbeitgeber. Die besagten institutionellen Arrangements funktionierten, weil es das Streikrecht gab, ohne das Streikrecht wäre die Arbeitsgesellschaft ein Dampfkochtopf ohne Ventil gewesen.

Angesichts der drohenden oder schon eingetretenen Insolvenzen von Großbetrieben, von Autobauern und ihren Zulieferfirmen, angesichts eines massenhaften Wegfalls von Arbeitsplätzen also, funktioniert die Streikdrohung aber nicht mehr richtig: Wenn es keine Arbeit mehr gibt, kann man sie nicht aus Protest niederlegen. Der Dampfkochtopf hat also kein funktionierendes Ventil mehr. Das verändert die Lage, das macht sie gefährlicher.

"Fresst doch Gras. Das ist heuer reichlich und gut gewachsen." So sagte der Bürodiener des Fabrikanten Zwanziger dem Weber Karl Dobermann, als der darüber klagte, dass er von seinem Lohn seine Familie nicht einmal kärglich ernähren könne; das war Ende Mai 1844. Anfang Juni 1844 stürmten die erregten Weber Haus und Fabrik der Brüder Zwanziger. Es war ein Aufstand gegen soziale Deklassierung und Demütigung - und ein Protest gegen die protzige Art, mit der Zwanziger seinen Reichtum zur Schau stellte. Heinrich Heine schrieb darüber sein Lied über die schlesischen Weber: "Ein Fluch dem falschen Vaterlande, wo nur gedeihen Schimpf und Schande."

"Auseinanderdriften der Gesellschaft"

Diese Lieder aus den Zeiten der Hungerkrise und der Kartoffelrevolution sind 150, 160 Jahre alt. Es sind und bleiben historische Lieder. Wer solche Lieder und Bilder für die Gegenwart beschwört, ist Theaterregisseur, nicht Politiker.

Es haben sich Parteien und Gewerkschaften gebildet, es ist ein soziales Netz gespannt worden, auch wenn es da und dort löchrig geworden ist; es hungert niemand. Aber es gibt Arbeits- und Perspektivlosigkeit - und die kann an einen Punkt gelangen, an dem das Resultat der Politik als unerträglich empfunden wird. Das wäre der Auslöser für soziale Unruhe. Da hilft soziale Prävention.

Trotzdem. Der damalige Generalstaatsanwalt Kay Nehm hat schon 2006, kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, vor einem "Auseinanderdriften der Gesellschaft" gewarnt, das den inneren Frieden gefährden könne. Die Angst auch der Mittelschicht vor dem sozialen Abrutschen hat sich seitdem noch verschärft. Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist auch eine Politik, die für innere Sicherheit sorgt.

Nicht jede soziale Unruhe ist eine gefährliche Unruhe. Es gibt auch eine produktive Unruhe. Produktiv ist eine Unruhe, die danach trachtet, dass der Kapitalismus domestiziert und demokratieverträglich wird.

© SZ vom 25.04.2009/woja - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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