Serie Krieg (12): Perspektiven für den Weltfrieden:"Europa ist ein Modell für den Frieden"

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Ist Weltfrieden möglich? Der Friedensforscher Dieter Senghaas analysiert, welche Chancen globaler Frieden hat, welche Rolle die EU bei seiner Verbreitung spielt - und erklärt, warum der UN-Sicherheitsrat ein skandalöses Verhalten an den Tag legt.

Sarina Märschel

Mit dem Thema Frieden schließt die Serie über Krieg im 21. Jahrhundert ab. Im Rahmen dieser Serie hatten Kriegsreporter, Politiker und Wissenschaftler Antworten auf die Frage gesucht, wie sich der Krieg in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Die Rolle von psychologischer Kriegsführung und Internet, Kriegsursachen und die Opfer der Konflikte wurden thematisiert. Alle Teile der Serie finden sie unter www.sueddeutsche.de/krieg.

Dieter Senghaas: "Der Frieden ist kein Selbstläufer; es bedarf der ständigen und ernsthaften Bemühungen, um ihn zu erreichen und auch, um ihn zu bewahren" (Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Ist Weltfrieden eine Utopie?

Dieter Senghaas: Wenn man ihn als einen flächendeckenden Frieden quer über die Welt definiert, dann ist das eine schöne Idee - aber diese Idee hat keine Chance, in absehbarer Zeit, also in den nächsten Jahrzehnten, realisiert zu werden.

sueddeutsche.de: Keine Chance - warum nicht?

Senghaas: Weil die Problemlagen in der Welt, die derzeit gegen Frieden sprechen, sehr ausgeprägt sind. Weil die Klüfte, die es in der Welt gibt, sehr groß sind: Interessendifferenzen, Identitätsdifferenzen; und insbesondere die sozialen Umbruchsituationen sind quer durch die Welt dramatisch - und sie vertiefen sich.

sueddeutsche.de: Wann spricht man von Frieden?

Senghaas: Zunächst einmal: Wenn die Waffen schweigen. Das ist aber nur eine wichtige, keine zureichende Voraussetzung. Einen nachhaltigen Frieden gibt es dort, wo die Beteiligten mit dem Ziel einer konstruktiven Konfliktbearbeitung ihre kontrovers bewerteten Probleme lösen.

sueddeutsche.de: In Europa funktioniert die konstruktive Konfliktbearbeitung in den vergangenen Jahrzehnten sehr gut - hat die EU als Friedensordnung Modellcharakter?

Senghaas: Die Antwort ist ein uneingeschränktes Ja. Wenn man die Geschichte Europas betrachtet, dann ist dieses Europa ein zerstrittener Kontinent gewesen. Heute ist aus dem Bewusstsein der Europäer der Gedanke völlig beseitigt, dass man irgendwelche Identitäts- oder Interessenkonflikte noch mit der Androhung oder gar dem Einsatz von militärischer Gewalt zu lösen beabsichtigt. Der zweite Fortschritt ist, dass große Länder wie Deutschland und kleine Länder wie die Benelux-Staaten kooperieren, ohne dass der Verdacht besteht, die Großen könnten die Kleinen manipulieren. Modellcharakter hat die EU-Erweiterung: Jene Gesellschaften der EU-Erweiterung, die nicht auf der ökonomischen Höhe der anderen EU-Länder sind, sind in diesem größeren Verbund aufgehoben und haben dadurch bessere Chancen für eine nachholende Entwicklung. Das alles wird überall in der Welt auch so wahrgenommen.

Im zweiten Abschnitt: Truppen schicken? Europas Aufgabe und die große Illusion der USA.

sueddeutsche.de: Was kann Europa sonst noch zum Weltfrieden beitragen? Ist es sinnvoll, Soldaten in Krisengebiete zu schicken?

Dieter Senghaas, geb. 1940, ist deutscher Friedensforscher und Professor am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen. (Foto: Foto: privat)

Senghaas: Es hängt sehr davon ab, um welche Fälle es sich handelt. Wir haben ja die Erfahrung mit den friedenserhaltenden Truppen der UN. Es gibt Beispiele, wo das nützlich war, wie in Zypern oder zum Teil auf dem Sinai. Ich denke, in den kommenden Wochen wird der Kosovo ein einschlägiger, akuter Fall sein. Wenn der Kosovo sich unabhängig erklärt, droht eine offene Bürgerkriegssituation. Dann ist wichtig, dass die Truppen, die im Augenblick vorhanden sind, vor Ort bleiben, um die Situation zu stabilisieren.

sueddeutsche.de: Aber ist es Ihrer Meinung nach immer ratsam, Soldaten zu entsenden?

Senghaas: Es gibt Situationen, wo das abwegig ist, zum Beispiel: Wir haben Erfahrungen in Afghanistan, da verlassen sehr viele Truppen - wie die Italiener oder die Deutschen - ihre Kasernen kaum. Die Amerikaner im Süden schonen ihre eigenen Truppen und versuchen dann, ihre militärischen Ziele aus der Distanz durch Luftoperationen durchzusetzen.

sueddeutsche.de: Welche Folgen hat dieses Vorgehen?

Senghaas: Letzteres fordert unglaublich viele Zivilopfer, und ist damit völlig kontraproduktiv gemessen an dem, was man eigentlich erreichen will. Und dieses Vorgehen schafft bekanntlich eine breitenwirksame Grundlage für Antiamerikanismus in diesem Teil von Afghanistan. Letztlich können nur die Afghanen selbst für eine konstruktive Weiterentwicklung Afghanistans sorgen.

sueddeutsche.de: Wie können die Afghanen beim Aufbau ihres Landes in anderer Form unterstützt werden?

Senghaas: Zivilmissionen sollten viel stärker genutzt werden. Ländern wie Afghanistan fehlt es an Infrastruktur: an Straßen, am Gesundheitssystem, an Schulen, an Ausbildung für Fachkräfte, an Ausbildung von öffentlichen Ordnungskräften wie Polizei und Verwaltungsbeamten. Das alles ist dort nicht mehr intakt - weil es bürgerkriegsbedingt zusammengebrochen ist oder durch Korruption aufgefressen wird. Für eine solche Aufbauleistung braucht man allerdings einen langen Atem.

sueddeutsche.de: Haben die USA die Schlüsselstellung im Kampf um internationalen Frieden?

Senghaas: In den USA spricht man derzeit über "military primacy". Man glaubt, man verfüge auf dieser Grundlage damit auch über die politische Erstrangigkeit in der Welt - eine ganz große Illusion. Sicherlich sind die USA die größte Militärmacht der Welt - aber diese Macht lässt sich nicht in eine Politik übersetzen, die vor Ort erfolgreich wird, nur weil man fähig ist, Militär einzusetzen. Wir beobachten das Gegenteil: Dort, wo US-Soldaten eingesetzt sind, sind die Folgen politisch besonders kontraproduktiv.

Im dritten Abschnitt: Der Überlebenskrampf der Nato.

sueddeutsche.de: Gilt das auch, wenn Europa sich in Konflikte militärisch einmischt?

Senghaas: Europa mischt sich ja wenig ein. Die Europäer sagen, wir müssten eigentlich politisch und/oder militärisch gemeinsam etwas machen, aber sie können sich nicht auf konkrete Maßnahmen einigen. Außer bei kleinen Projekten wie vor kurzem im Kongo, wo man Truppen hingeschickt hat zur Sicherung der Wahl - und wo nach wenigen Wochen die Truppen abgezogen werden, egal was passiert. Das sind letztendlich symbolische Aktionen.

sueddeutsche.de: Welche Rolle spielt die Nato für den Weltfrieden?

Senghaas: Im Grunde genommen hat die Nato sich in ihrem Auftrag überlebt. Sie hatte einst einen klaren Auftrag und Stellenwert im Rahmen des Ost-West-Konfliktes. Seit es den nicht mehr gibt, ist sie auf der Suche nach einer Mission. Realistisch betrachtet: Die Nato lebt eben so dahin und verfolgt jetzt merkwürdige Pläne, zum Beispiel die Aufnahme Georgiens. Und dann will sie auch noch eine Brücke zu Australien zu schaffen! All das soll einfach dazu beitragen, dass die Nato im Gespräch bleibt - eine Strategie, die einem politischen Überlebenskrampf gleicht.

sueddeutsche.de: Können die Vereinten Nationen die große Friedensmacht sein?

Senghaas: Die UN haben zumindest die Legitimität hierfür. Ob sie die Kraft haben, hängt von den Staaten ab, die sie tragen, nicht von den UN als Organisation selbst.

sueddeutsche.de: Was müsste sich verändern, damit sie diese Kraft bekommt?

Senghaas: Wichtig wäre, dass der Sicherheitsrat nicht nur ein Organ der fünf Vetomächte ist, die dort ihre jeweils egoistische nationale Politik verfechten. Dadurch wird das, was der Sicherheitsrat beschließt, relativ willkürlich. Ich bezeichne diese Lage als "neoabsolutistisch": Die Sicherheitsratsmitglieder beanspruchen für sich, das internationale Recht zu sein, egal was sie entscheiden. Der wichtige Punkt ist, dass gleiche Fälle gleich behandelt werden müssen. Der Sicherheitsrat jedoch tut bei dramatischen Menschenrechtsverletzungen manchmal gar nichts, gibt jedoch im anderen Fall ein Mandat zur Intervention - und redet schließlich drittens über einen Fall lange und ausschweifend ohne praktische Folgen - insgesamt betrachtet ein skandalöses Verhalten, das jedem Rechtsempfinden widerspricht.

sueddeutsche.de: Haben Sie dafür Beispiele?

Senghaas: Die gibt es am laufenden Band! Schauen Sie sich die Fälle Darfur in Afrika oder jetzt Birma an: Alles wird immer ganz unterschiedlich behandelt. Der Sicherheitsrat käme jedoch nur zu einem allgemein akzeptierten Standing, wenn er gleiche Fälle gleich behandelt und dadurch kalkulierbar wird - ein Grundsatz jeder intakten Rechtsgemeinschaft. Er müsste sich also an bestimmte Normen halten, zum Beispiel an die Anti-Genozid-Konventionen.

sueddeutsche.de: Sehen Sie Chancen, dass sich die Staaten im Sicherheitsrat dazu durchringen können?

Senghaas: Im Augenblick nicht. Und das bedeutet natürlich eine deutliche Schwäche der Vereinten Nationen.

Auf der nächsten Seite: Wie Kriege um Ressourcen verhindert werden können.

sueddeutsche.de: Es wird befürchtet, dass in Zukunft immer mehr Kriege um Ressourcen geführt werden.

Senghaas: Es wird weiter das geben, was wir heute in Afrika beobachten: Kriege zwischen Nomaden und sesshaften Bauern um Ressourcen. Wann immer es Klimaveränderungen gegeben hat, hat es solche Auseinandersetzungen gegeben. Es wird sicher auch Streit geben über Wasserressourcen. Ob die in kriegerische Konflikte umschlagen, ist schwer zu prognostizieren.

sueddeutsche.de: Wie kann man verhindern, dass solche Auseinandersetzungen kriegerisch geführt werden?

Senghaas: Es handelt sich im letzteren Beispiel ja meist um bilaterale Konflikte. Da ist es notwendig, dass es zu bilateralen Konsultationen, Gesprächen, Absprachen kommt, und zwar zum frühest möglichen Zeitpunkt. Ganz sicher ist hier die internationale Diplomatie besonders wichtig - sei es der EU, der Regionalorganisationen oder der UN.

sueddeutsche.de: Wie geht man mit Akteuren um, die gar nicht am Frieden interessiert sind - beispielsweise, weil sie am Krieg verdienen? Wie zum Beispiel im Kongo?

Senghaas: Von außen hat man da die Chance, dass man die Quellen des Verdienens eliminiert. Wenn zum Beispiel der Profit der Kriegsherren auf dem Verkauf von Blutdiamanten oder Edelhölzern beruht, dann sind die Absatzmärkte in der Regel bei uns. Meist gibt es keine Möglichkeit, vor Ort mit Aussicht auf Erfolg zu intervenieren, zum Beispiel im Ostkongo - aber wenn die Nachfrage für die Produkte in unseren Ländern unterbunden wird und damit die Erlösquelle versiegt, hat das eine starke Rückwirkung. Diese wesentliche Möglichkeit der indirekten Intervention, um zum Frieden beizutragen, wird viel zu wenig genutzt.

sueddeutsche.de: Stimmt die These, dass der Weltfrieden sicherer wird in dem Ausmaß, in dem sich ökonomisches Gleichgewicht einstellt?

Senghaas: Weltfrieden hat etwas zu tun mit dem Frieden innerhalb von Staaten - und nicht nur zwischen den Staaten. In einer Gesellschaft, die im Umbruch ist - mit sozialer Aufwärtsmobilität von Menschen und Status-quo-Eliten, die dagegenwirken - spielt die soziale Frage eine ganz sensible Rolle. Das Gleichgewicht des Besitzes hat sich als eines der zentralen Friedensprobleme herausgestellt: Zunächst innergesellschaftlich, und immer mehr auch zwischen den Gesellschaften, weil die Kluft zwischen Arm und Reich sich in der Welt in den letzten Jahren akzentuiert hat und sich darüber Konfliktpotentiale aufbauen.

Im letzten Abschnitt: Welche Schritte zu einem nachhaltigen Frieden führen - und was man tun muss, um ihn zu bewahren.

sueddeutsche.de: Welche Schritte führen zu einem nachhaltigen Frieden?

Senghaas: Die Konflikte müssen zuallererst vor Ort friedlich gelöst werden, in den einzelnen Gesellschaften. Zunächst einmal ist ein staatliches Gewaltmonopol Vorraussetzung für Frieden. Wir sehen an vielen Stellen in der Welt, zum Beispiel im Libanon oder im Ostkongo, dass sich die Bürger wieder bewaffnen, wo das Gewaltmonopol zerbröselt oder gar zusammenbricht. Man braucht zweitens eine rechtsstaatliche Kontrolle dieses Gewaltmonopols. Die entscheidende Frage ist: Gelingt diese rechtliche Einhegung, beispielsweise durch Gewaltenteilung? Weiterhin ist, drittens, eine flächendeckende Ökonomie wichtig, mit der daraus resultierenden weiträumigen Arbeitsteilung.

sueddeutsche.de: Warum ist das wichtig?

Senghaas: Weil die Menschen in einer solchen Gesellschaft gleichzeitig in viele Rollen eingegliedert sind: in Familie, Arbeitswelt, Vereine. Man ist Staatsbürger. Man ist in vielfältige Interdepenzen eingebunden, und das hat eine unglaubliche Bedeutung für die erforderliche Affektkontrolle. Wo diese Einbindungen verlorengehen, kommt es zur Affektexplosion - die steht immer am Beginn eines Bürgerkrieges: Die Affekte wirken dann gegen die Vernunft. Und, viertens, ist die demokratische Teilhabe sehr wichtig - die Chance, sich produktiv in öffentliche Angelegenheiten einbringen zu können. Der fünfte Punkt wäre die Bemühung um soziale Gerechtigkeit. Wenn das alles zusammenkommt, dann besteht - sechstens - die Chance auf eine politische Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung. Unter diesen Vorzeichen kann man dann von einem stabilen, nachhaltigen Frieden ausgehen.

sueddeutsche.de: Ist solcher Frieden selbsttragend?

Senghaas: Wichtig ist, dass zwischen den von mir genannten sechs Faktoren oder Bausteinen positive Rückkopplungen zustande kommen. Denn nur dann ist gesichert, dass unvermeidliche Konflikte verlässlich zivilisiert bearbeitet werden.

sueddeutsche.de: Wenn in allen Ländern diese Punkte beachtet würden - hätten wir dann Weltfrieden?

Senghaas: Es wäre der wesentliche Schritt in Richtung Weltfrieden. Wenn bestimmte Dinge nicht berücksichtigt werden, zum Beispiel Bemühungen um soziale Gerechtigkeit ausbleiben, dann bricht ein solches Arrangement, das möglicherweise auf Zeit eine gewisse Garantie bot, Konflikte nachhaltig friedlich zu bewältigen, leicht zusammen. Diese Erkenntnis ist übrigens auch in unseren demokratisch verfassten Gesellschaften enorm wichtig, wo es im Augenblick keine Anzeichen von Bürgerkrieg gibt. Denn auch hier gilt: Einmal erreichter Frieden bleibt immer rückfallgefährdet. Der Frieden ist kein Selbstläufer; es bedarf der ständigen und ernsthaften Bemühungen, um ihn zu erreichen und auch, um ihn zu bewahren.

Prof. Dieter Senghaas, geb. 1940, ist ein deutscher Friedensforscher. Er lehrt am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen. In seiner Forschung hat er sich auch mit Abrüstung, der Analyse von internationalen Konfliktformationen und weltpolitischen Entwicklungen nach dem Ost-West-Konflikt befasst. In seinem Buch "Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen" beantwortet Dieter Senghaas ausführlich, wie und wodurch sich Frieden unter den komplexen Bedingungen der Gegenwart konstituiert.

Suhrkamp Verlag (2004) 308 Seiten ISBN 978-3-518-12384-3 11 Euro

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