Serie: Armut in Deutschland (2):Ein Bild von einem Armen

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Als gäbe es noch immer die Armenpolizei: Die Deutschen betrachten arme Mitbürger eher als eine Störung der öffentlichen Ordnung denn als Hilfsbedürftige. Ein Gespräch mit dem Armutsforscher Ernst-Ulrich Huster.

Birgit Lutz-Temsch

sueddeutsche.de: Ist man in Deutschland heute arm, wenn man nicht mindestens einmal im Jahr in Urlaub fahren kann?

Ernst-Ulrich Huster (Foto: Foto: oh)

Ernst-Ulrich Huster: Armut ist immer eine relative Größe. Nehmen wir das Beispiel einer Stange Zigaretten: Wer vor dem 20. Juni 1948, also der Einführung der D-Mark, eine Stange amerikanischer Zigaretten besessen hat, war ein reicher Mensch. Wer heute irgendwo bei uns eine Stange Zigaretten illegal verkauft, ist ein armes Schwein. Die Frage des Reichtums oder der Armut definiert sich durch die Möglichkeiten einer Gesellschaft: Einerseits haben wir zum Beispiel glamouröse Münchner Straßen, in denen sich Wohlstand verbreitet. Andererseits Menschen, die mit 347 Euro klarkommen und mit Sonderangeboten das Leben meistern müssen.

sueddeutsche.de: Stimmt der Spruch "Arme erkennt man an ihren Zähnen" noch?

Huster: Das war in den Sechzigerjahren sehr deutlich zu sehen. Das hat sich teilweise verändert, weil wir jetzt auch für Sozialhilfeempfänger eine bessere Versorgung im Gesundheitsbereich haben. Aber in letzter Zeit beobachten wir wieder eine stärkere Segmentierung im Gesundheitswesen. Es gibt zunehmend Barrieren - und ich will nicht nur die Praxisgebühr anführen. Wir wissen aus langfristigen Untersuchungen, dass Menschen, die keine Perspektive mehr in ihrem Erwerbsleben sehen, auch ihre eigene und die Gesundheit ihrer Kinder vernachlässigen. Auch die Symptomtoleranz ist häufig größer, das heißt, man ignoriert Anzeichen von Krankheiten in den unteren sozialen Schichten eher als in den Mittel- und Oberschichten, wo sehr schnell ein Spezialist aufgesucht wird.

sueddeutsche.de: Wie zeigt sich Armut noch?

Huster: Im Gesichtsausdruck. Ich erlebe oft trostlose Gesichter, die zerfurcht und traurig sind, aus denen eine gewisse Perspektivlosigkeit spricht. Gerade Langfristarbeitslose sehen oft deutlich älter aus, als sie sind. Vor kurzem habe ich in einer Kirche in Halle an der Saale eine Wandtafel mit Gebeten von Kirchgängern gesehen. Auf einem Zettel stand: "Lieber Gott, herzlichen Dank, dass diese große Schande Hartz IV jetzt vorbei ist." Diese Schande, diese Stigmatisierung durch das Umfeld - das zeichnet sich häufig in den Gesichtern ab.

sueddeutsche.de: Suggeriert die Gesellschaft den Armen, dass ihre Lebensumstände eine Schande sind?

Huster: Das Schlimme ist, das wir bei uns keine Kultur haben, die das verwirklicht, was in der katholischen Soziallehre im Subsidiaritätsprinzip verankert ist. Nach diesem gibt es eine vorleistungsfreie Gerechtigkeit in der Gesellschaft, denn jeder Mensch hat eine unaufhebbare Würde, und daraus leitet sich ab, dass er Hilfe zur Selbsthilfe bekommt, wenn er in Not ist. Stattdessen führen wir periodisch Missbrauchsdebatten.

Ich erinnere: Am 1. Januar 2005 wurde das Sozialgesetzbuch II, vulgo Hartz IV, in die Welt gesetzt. Keine acht Monate später ist der damalige Arbeits- und Wirtschaftsminister mit einer Dokumentation sogenannter Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit getreten - zu einem Zeitpunkt also, zu dem noch nicht einmal die Arbeitsgemeinschaften zwischen den Agenturen für Arbeit und den Kommunen gebildet worden waren, zu dem der schwierige Integrationsprozess zwischen den Agenturen und den Sozialämtern noch nicht ansatzweise geleistet worden war. Schon in diesem Augenblick entstand eine neue Missbrauchsdebatte.

sueddeutsche.de: Welche die Empfänger alle in eine Ecke stellt.

Huster: Ja. Die materielle Minimalausstattung wurde sofort begleitet von der Generalunterstellung: Das sind alles Leute, die unberechtigterweise Leistungen entgegennehmen. Meiner Meinung nach ist das in der Tat nicht vereinbar mit dem Grundsatz, dass ein Mensch, der in Not ist, Anrecht auf vorleistungsfreie subsidiäre Leistung hat.

sueddeutsche.de: Welches Bild herrscht in unserer Gesellschaft von Armen?

Huster: Arme sind selbst schuld, zu faul oder zu unfähig, ihre Situation zu ändern. Im Regelfall ist es so, dass diese Zuweisungen erfolgen. Obwohl wir aus internationalen Vergleichen von Bildungsuntersuchungen wissen, dass hier soziale Selektionsfilter laufen, die Kindern aus unteren Sozialschichten letztlich die schlechteren Startchancen im Bildungswesen verschaffen. Obwohl wir aus einer Vielzahl von Untersuchungen wissen, dass sich die soziale Schicht auf den gesundheitlichen Status auswirkt, dass also gerade Kinder aus unteren sozialen Schichten weniger gesunde Lebens- und Ernährungsbedingungen haben, dass sie weniger Förderungsmöglichkeiten erfahren. Kurz: Wir wissen so viel über soziale Ursachen von Verarmung - gerade bei Kindern und Jugendlichen - dass ich denke, dass eine solche Stigmatisierung eher auf die sozialen Strukturen zeigt, die die Verarmung verursachen.

sueddeutsche.de: Wie reagieren Menschen, wenn jemand im näheren Umfeld "arm" wird, also zum Beispiel länger keine Arbeit findet und finanziell zurückstecken muss?

Huster: Das hängt von den Rahmendaten ab. Bei Arbeitslosenquoten von 25 Prozent wie in Ostdeutschland ist es "einfacher", dort zu leben, weil es dort eher ein Stück "Normalität" ist, wenn man so will. Das sieht im Münchner Raum oder Teilen des Rhein-Main-Gebiets völlig anders aus, wo die Arbeitslosenquoten sehr viel niedriger sind und wo es sehr viel schwieriger ist, sich selbst in dieser Situation zurecht zu finden, wenn das Umfeld fragt: Wieso haben hier so viele Leute Arbeit, nur Du nicht?

sueddeutsche.de: Werden diese Menschen dann gemieden?

Huster: Meistens findet ohnehin eine Selbstisolation statt, das heißt, der Betroffene zieht sich zunehmend aus sozialen Bezügen heraus. Nach einer wissenschaftlichen Analyse mit dem Titel von Ali Wacker: "Vom Schock zum Fatalismus" kommt es beim Eintreten der Arbeitslosigkeit erst zu einem Schock, gegen den man sich aufbäumt. Dann flacht die Aktivitätskurve allmählich ab und geht in eine fatalistische Struktur über. Am Anfang tut man noch so, als würde man arbeiten gehen. Irgendwann ist es nach außen nicht mehr zu verbergen, und man versucht, sich durch Selbstisolation aus kommunikativen Situationen zu befreien, in denen man als Loser dastehen würde.

sueddeutsche.de: Wie geht das Umfeld mit diesen Menschen um?

Huster: Da gibt es keine einheitlichen Reaktionen. In einer Ruhrgebietsstadt gibt es z.Zt. eine Initiative, bei der sich eine Art 'Paten' melden sollen, damit sie sich der Kinder aus von sozialer Ausgrenzung betroffenen Familien annehmen; mit ihnen nehmen sie dann etwa an Freizeitveranstaltungen teil, die sich die Eltern nicht mehr leisten können. Aber es gibt natürlich auch Gegenbeispiele, bei denen sich das Umfeld zurückzieht, keine Lust mehr hat, mit demjenigen Kontakt zu halten. Oder es ergibt sich einfach nicht mehr, weil es zu Situationen kommt, in denen es der Betroffene nicht mehr aushält, dass die anderen um ihn herum fröhlich sind, und er als Einziger nicht. Dinge wie diese soziale Patenschaft sollten unbedingt stärker propagiert werden.

sueddeutsche.de: Menschen für ehrenamtliche Arbeit zu begeistern, ist in Deutschland allerdings schwieriger als in anderen Ländern...

Huster: Der Grundsatz des Forderns und Förderns, den wir bei uns als Motto bei der Hartz-Gesetzgebung hatten, stammt aus Skandinavien, Dänemark, den Niederlanden. Dort hat die ehrenamtliche neben der amtlichen Tätigkeit einen hohen Stellenwert. Das Verfolgen einer Eingliederungsstrategie, bei der man Menschen wieder in die Gesellschaft hinein holt, ist auch von der christlichen Tradition geprägt. Bei der man einerseits fördert, aber den Einzelnen animiert, wieder mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Das ist ein vernünftiges Wechselverhältnis, das als Kultur in skandinavischen Ländern oder den Niederlanden beobachtet werden kann. Bei uns ist das so nicht üblich.

Auf der nächsten Seite: Wenn Menschen, die das schöne Bild stören, in andere Landkreise gekarrt werden

sueddeutsche.de: Woher kommen diese tiefgreifenden Unterschiede im Umgang mit Armut?

Huster: Wir haben in Deutschland die Tradition der Armenpolizei - für Armut war lange die Polizei zuständig. Bis in die Weimarer Republik hinein. Arme hatten in Deutschland bis zur Verfassungsgebenden Versammlung der Weimarer Republik 1918 kein Wahlrecht. Arme wurden als Ruhestörung oder Störung der öffentlichen Ordnung begriffen. Das erleben wir bis heute: Wenn in manchen Kommunen alleinstehende Wohnungslose mit dem Bus in andere Landkreise gekarrt werden. Bei uns wird Armut als eine Störung der öffentlichen Ordnung, des öffentlichen Wohlbefindens empfunden, und nicht als eine Sache, mit der sich die Gesellschaft identifizieren kann und muss. Wir haben die Mentalität: Jeder ist seines Glückes Schmied. Und wer da runter fällt, ist selbst dran schuld.

sueddeutsche.de: Wie wird sich das bei uns noch weiter entwickeln?

Huster: Ich sehe zwei gegenläufige Tendenzen: In den Fünfziger- und Sechzigerjahren bestand die Armutspopulation vor allem aus Flüchtlingen und Kriegsopfern, etwa den Kriegswitwen. In den Siebzigern und Achtzigern kamen erste Zeichen von Langfristarbeitslosen, und man sprach davon, dass Armut sozial entgrenzt wurde. Das heißt: Wir haben zunehmend Leute mit höherem Bildungsgraden, die abrutschen können. Auf der anderen Seite haben wir nach neuen Untersuchungen zwischen sieben und neun Prozent an Menschen, die völlig abgekoppelt sind, die keine Hoffnung mehr haben, überhaupt wieder zurückzukommen in den gesellschaftlichen Austausch.

Beides zusammen könnte eine sehr schwierige Stimmung verursachen. Die vom Abstieg bedrohten Mittelschichten könnten nach irrationalen Strategien suchen und andere für ihre Gefährdung verantwortlich machen, Ausländer, die Europäische Union, wen auch immer. Und ob dieser unterste, gleichsam 'stillgelegte' Teil der Bevölkerung irgendwann rebelliert, weiß man ebenfalls nicht.

sueddeutsche.de: Was hilft gegen ein solches Szenario?

Huster: Dagegen hilft nur eine ganz vernünftige Mindestsicherungspolitik. Wir müssen das Mindestsicherungssystem so gestalten, dass Menschen damit in Würde leben können, sich ihrer Würde bewusst bleiben, und sich nicht als Menschen betrachten, die eigentlich, obwohl sie noch atmen, längst tot sind.

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