Russland: Putin tritt ab:Ein Experiment auf höchster Ebene

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In Russland regieren künftig Präsident Medwedjew und Premier Putin in einer "Tandemokratie" - doch Machtproben sind absehbar.

Sonja Zekri, Moskau

Wirklich vorhersehbar ist nur das Ritual selbst, und das läuft genauso ab wie die letzten Male. Am Mittwoch wird Dmitrij Medwedjew als russischer Präsident ins Amt eingeführt wie sein Vorgänger und künftiger Ministerpräsident Wladimir Putin in den Jahren 2000 und 2004. Eine militärische Ehrenwache wird die russische Fahne und die präsidiale Standarte in den Andreas-Saal des Kreml tragen.

Sie lenken künftig gemeinsam die Geschicke Russlands: Dmitrij Medwedjew und Wladimir Putin. (Foto: Foto: AP)

Medwedjew, dessen Weg vom Weißen Haus zum Kreml zuvor von zwei Kamerakränen life übertragen wird, betritt das Podium und wird vom Vorsitzenden des Verfassungsgerichts, Waleri Sorkin, vereidigt. Es folgen die Hymne, eine kurze Ansprache Medwedjews und 30 Salutschüsse. Dann hat Russland einen neuen Präsidenten.

Davon abgesehen ist nichts klar. Seit der Wahl Medwedjews vor zwei Monaten liegt eine lähmende Stille über dem Land. Politische Analysten rätseln, die Kommunikation der Mächtigen mit dem Volk, ohnehin eher spärlich, ist fast vollständig zum Erliegen gekommen.

Hinter den Kulissen aber laufen die Vorbereitungen für ein Experiment, das in der russischen Geschichte ohne Beispiel ist: Am Donnerstag, einen Tag nach der Inauguration, wird Medwedjew Putin zum Ministerpräsidenten ernennen. Das Parlament, die Duma, hat seine Sitzung vorgezogen, um Putin noch am selben Tag zu bestätigen. Damit beginnt die Doppelherrschaft oder, wie einige Beobachter spotten, die "Tandemokratie".

Die ersten Bausteine einer neuen Architektur der Macht sind unübersehbar, und der größte Brocken ist zweifellos, dass Putin den Vorsitz der Kreml-Partei Einiges Russland übernehmen wird. Die Partei, eine Kreml-Schöpfung auf Putins Anregung, verfügt nach den orchestrierten Wahlen vom Dezember über eine verfassungsändernde Zweidrittel-Mehrheit im Parlament.

Putin kontrolliert Exekutive und Legislative

Damit beherrscht Putin nicht nur als Regierungschef die Exekutive, sondern als Parteivorsitzender auch die Legislative. Die Parteimitgliedschaft lehnt er weiterhin ab, so dass Einiges Russland extra die Satzung ändern musste, um einerseits auch Nicht-Mitgliedern den Vorsitz zu erlauben und Putin andererseits mit erweiterten Vollmachten auszustatten.

Nach der Verfassung und den Gepflogenheiten des postsowjetischen Russland ist der Regierungschef eigentlich nur ein höherer Beamter, der vom Präsidenten eingesetzt und entlassen werden kann. Nun aber könnte Putin mit der Dominanz von Einiges Russland eine Verfassungsänderung und sogar ein Amtsenthebungsverfahren gegen Medwedjew erwirken. Falls es schlecht läuft zwischen den beiden. Dies ziehen zwar öffentlich weder Putin noch Medwedjew in Betracht, doch hatte dieser unlängst erklärt, er wünsche sich für Russland mehr als eine oder zwei übermächtige Parteien, was als Anzeichen eines gewissen Unbehagens gewertet wurde.

Ministerpräsident kontrolliert Gouverneure

Denn auch auf anderen Gebieten hat Putin seinen Einflussbereich um bislang präsidiale Hoheitsgebiete erweitert. Die Gouverneure in den Regionen beispielsweise werden zwar nach wie vor vom Präsidenten eingesetzt - die Direktwahl hatte Putin abgeschafft -, ihre Bewertung aber überführte Putin noch in den letzten Tagen als Präsident vom Kreml in den Regierungssitz im Weißen Haus.

Erst im vergangenen Jahr hatte er angeordnet, dass die Gouverneure den Erfolg ihrer Arbeit nach 70 teils absurd detaillierten Kriterien einer Kommission der Kreml-Administration präsentieren müssen. Nun aber sollen die Gouverneure dem Kabinett, also Putin, berichten, etwa wie viele ihrer Schüler das zentrale Staatsexamen abgelegt haben und wie viele Bürger regelmäßig Sport treiben.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie das Amt des Ministerpräsidenten zusätzlich aufgewertet wird.

Was klingt wie bürokratische Haarspalterei, erlaubt Putin in Wahrheit den Zugriff auf die Regionen. Putin bleibe der "Oberkommandierende der Gouverneurstruppe", schreibt die Zeitung Nesawissimaja Gaseta. Und dass fast alle Regionalparlamente von Einiges Russland beherrscht werden, dürfte diesen Einfluss noch verstärken.

Dmitrij Medwedjew und Waldimir Putin an Ostern in Moskau (Foto: Foto: AFP)

Es sind keine grundstürzenden Änderungen, sondern eher diskrete Verschiebungen, mit denen Putin sein Terrain erweitert. Schließlich könnte ihm jede drastische Machtübernahme als Misstrauensvotum gegen seinen eigenen Kandidaten ausgelegt werden. Schlimmstenfalls würde er seinen Zögling demontieren, noch bevor dieser in den Kreml eingezogen ist.

Eher symbolisch wirkt auf den ersten Blick auch der Gesetzesentwurf Wladimir Pligins, des Vorsitzenden des parlamentarischen Komitees für die Gesetzgebung der Verfassung. Pligin schlug vor, durch die Änderung von 150 Gesetzen 500 der etwa 3000 Aufgabenbereiche der Regierung an niedrigere Ministerien und Agenturen abzugeben. Schon am 20. Mai könnte die Duma über dieses Gesetz abstimmen. Die Zeitung Nowoje Wremja ergänzte, dass Analysten bereits seit längerem erwogen, ob sich die graue Routine endloser Vertragsbestätigungen und Abzeichnungen mit Putins Status eines "nationalen Führers" vereinbaren ließe.

Zweifellos, so Beobachter, werde das nun von technischem Ballast entlastete Amt Putin größeren politischen Spielraum bieten. Die Presseabteilung des Weißen Hauses wird auf jene des Kreml erweitert. Dmitrij Peskow, derzeit Putins Vize-Pressechef und zuständig für internationale Medien, wird Pressechef der Regierung. Putin wird sich also nicht nur auf das heimische Publikum konzentrieren. Zudem wird nach Informationen der Zeitung Gaseta die Zahl der Vizepremiers auf elf erhöht, zu denen auch Igor Setschin gehören wird, derzeit Vizechef der Präsidialverwaltung und einer der einflussreichsten Männer des Landes. Schon diskutieren Politologen, ob sich Russland durch diese Umschichtung von einem präsidialen in ein parlamentarisches System verwandelt, eine Möglichkeit, die der künftige Präsident Medwedjew übrigens rundweg ablehnt.

Ansonsten weiß man über Medwedjews Pläne vor allem, dass ihn die Verfassung mit fast monarchischen Machtbefugnissen ausstattet. Der russische Präsident leitet den Sicherheitsrat, ernennt die Minister und das militärische Oberkommando, die Bundesrichter und den Generalstaatsanwalt, und er leitet den Sicherheitsrat. Vor allem gehört zu den genuin präsidialen Zuständigkeiten die Außenpolitik. Gerade hier aber erbt Medwedjew einen Scherbenhaufen.

Auf der nächsten Seite: Die Herausforderungen der russischen Außenpolitik.

Zwar hat Russland - auch dank hoher Energiepreise - die Rückkehr auf die internationale Bühne geschafft, aber die Beziehungen zu Amerika, Europa und selbst zu den meisten GUS-Nachbarn sind frostig, das Verhältnis zu so wichtigen Partnern wie Großbritannien ist geradezu desaströs. Konflikte schwelen um den geplanten US-Raketenschild in Polen und Tschechien, um Menschenrechtsfragen, die Iran-Politik und die Nato-Erweiterung - von der Begeisterung des Westens für Russland aus den Jelzin- und den ersten Putin-Jahren ist wenig übrig geblieben. Umgekehrt ist das genauso.

Erste Reisen nach Kasachstan und China

Die ersten Auslandsreisen des neuen Kremlherren führen deshalb auch nicht in den Westen, sondern nach Kasachstan, zu einem der größten Energie-Lieferanten, und nach China, einem der wichtigsten Energie-Kunden. Die Europäer empfängt Medwedjew auf heimischem Boden, beim EU-Russland-Gipfel im sibirischen Chanty-Mansisk.

Nicht alle bedauern diese Abwendung vom Westen. Dass Russland und Georgien im Streit über die abtrünnige Region Abchasien nach der Eskalation der vergangenen Tage unfreiwillig in einen Krieg hineinrutschen könnten, den weder Georgien noch Russland brauchen können, könnte nach Ansicht von diplomatischen Beobachtern das Werk von Kreml-Falken sein. Ihnen passte die neue Richtung nicht, nun wollen sie den vermeintlich Liberalen Medwedjew auf eine harte Linie festlegen.

Zweifellos wird Medwedjews Erfolg als Staatschef und sein Überleben als Politiker schlechthin auch von der Frage abhängen, wie er sich mit den "Silowiki", den "Machtmenschen", in den Sicherheitsdiensten arrangiert. Diese sind in rivalisierende Clans zersplittert, etwa um den Inlandsgeheimdienst FSB, die Anti-Drogen-Behörde oder das Ermittlungskomitee bei der Staatsanwaltschaft, an deren Spitze langjährige Freunde Putins stehen.

In den vergangenen Jahren haben sie eigene Wirtschaftsinteressen und überhaupt ein riskantes Eigenleben entwickelt, das selbst Putin kaum kontrollieren kann. Nun soll im Herbst ein alter Plan verwirklicht werden und eine eigene Superermittlungsbehörde nach Art des amerikanischen FBI geschaffen werden, um die Fehde zu beenden. Medwedjew, der anders als Putin nicht aus den Geheimdiensten stammt, habe diesen Plan befürwortet, heißt es.

© SZ vom 6.5.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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