Roman Herzog zum Wahlrecht:"Eine fundamentale Veränderung unseres Regierungssystems"

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Das Aufkommen der Linken erschwert es, stabile Mehrheiten zu bilden - eine Korrektur des Grundgesetzes könnte Abhilfe schaffen.

Roman Herzog

Der frühere Bundespräsident Roman Herzog analysiert in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung den Umbruch, den der Parlamentarismus in Deutschland durch den Einzug einer fünften Partei in Bundestag und Länderparlamente erfahren hat. Regierungsbildungen und Gesetzgebung sind schwieriger geworden. Dies hat Auswirkungen auch auf den Bundesrat. Herzog regt eine Verfassungsänderung an.

Alt-Bundespräsident Roman Herzog (Foto: Foto: ddp)

Im gegenwärtigen Bundestag sind bereits fünf Parteien durch Fraktionen vertreten: CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und die Linke. Es ist schon abzusehen, dass nach der Bundestagswahl 2009 dies wieder so sein wird. Wenn man in Rechnung stellt, dass die Veränderung, die bereits auf dem einen Flügel unseres Parteiensystems eingetreten ist, leicht entsprechende Veränderungen auf dem anderen Flügel zur Folge haben kann, kann die Möglichkeit einer sechsten Partei, die auch nicht unbedingt neofaschistisch sein müsste, jedenfalls nicht gänzlich ausgeschlossen werden.

Hand in Hand damit ist bei den Wählern ein Vertrauensschwund gegenüber den sogenannten Volksparteien CDU/CSU und SPD zu beobachten, der sich in der Zukunft mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit fortsetzen wird und schon jetzt, besonders seit der Hessen-Wahl, zu Spekulationen über die Ablösung der bisherigen Zweiparteien-Koalitionen durch Dreiparteien-Koalitionen geführt hat.

Die Regierungen zwischen 1957 und 2005

Wir haben also mit einer fundamentalen Veränderung unseres Regierungssystems zu rechnen, und das, ohne dass sich an den Vorschriften des Grundgesetzes und des Bundeswahlgesetzes etwas Wesentliches geändert hätte.

Das Grundgesetz ist in seinen Aussagen nach wie vor ziemlich klar. Es verlangt für die Wahl des Kanzlers die absolute Mehrheit der Abgeordneten und lässt einen Minderheitskanzler nur zu, wenn es gar nicht anders geht (Art. 63). Den Sturz einer Regierung während laufender Legislaturperiode macht es davon abhängig, dass mit absoluter Mehrheit ein neuer Kanzler gewählt wird (Art. 67). Und wenn der Kanzler eine von ihm selbst beantragte Vertrauensabstimmung verliert, gibt es dem Bundespräsidenten das Recht, entweder Neuwahlen auszuschreiben oder den Bundestag für eine Übergangszeit als Gesetzgebungsorgan durch den Bundesrat zu ersetzen (Art. 68; sog. Gesetzgebungsnotstand).

Alle diese Bestimmungen sind in den vergangenen Jahrzehnten nicht wirklich "belastet" worden. Man weiß also wenig darüber, was sie im Ernstfall der Krise "bringen". Klar ist aber, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat gewollt haben: stabile Regierungen und die dazu notwendigen stabilen Mehrheitsverhältnisse im Parlament.

Bis etwa 1980 genoss die Bundesrepublik denn auch eine erstaunliche politische Stabilität. Dafür ist oft der Art. 21 des Grundgesetzes verantwortlich gemacht worden, der das Verbot extremistischer Parteien vorsah - aber von dieser Möglichkeit ist zuletzt 1956 Gebrauch gemacht worden. Näher lag schon der Hinweis auf die Fünf-Prozent-Klausel des Bundeswahlgesetzes, die es neuen Parteien wirklich erschwerte, Fuß zu fassen - rechnerisch ließ sie aber immer noch 19 Fraktionen zu. Allzu groß war die Wirkung also auch nicht.

Entscheidend war in Wirklichkeit das Wahlverhalten der Deutschen, zuerst der Westdeutschen, in jenen Jahrzehnten. Bis etwa 1980 und spätestens seit 1957 gab es in Westdeutschland eine Art Zweieinhalb-Parteien-System, nämlich die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD und die wesentlich kleinere FDP, die aber jeweils für mehrere Wahlperioden eine Koalition mit einer der beiden großen Parteien einging. Das hatte Folgen für das gesamte politische System, die im Grundgesetz zwar nicht vorgeschrieben waren, seinem Wunsch nach Stabilität aber massiv nachkamen und die sich im Kopf vieler unserer Mitbürger so festsetzten, dass sie sie noch heute für geltendes Verfassungsrecht halten.

Da sich bei den Bundestagswahlen meist nur zwei Lager gegenüberstanden, war dem Führer des größeren Lagers automatisch die absolute Mehrheit im Parlament und damit der Stuhl des Bundeskanzlers sicher. Viele von den Wählern glaubten beim Gang zur Wahlurne sogar, dass sie den Kanzler und nicht etwa nur ihre Abgeordneten zu wählen hätten.

Regierungswechsel während der Legislaturperiode wurden als etwas zutiefst Illegitimes angesehen, führten fast automatisch zum Ruf nach, 1982 sogar zum Versprechen von Neuwahlen. Die Misslichkeiten der daraus entstehenden Verfassungsprozesse haben wir alle miterlebt: Das gefundene Verfahren über die Vertrauensfrage nach Art. 68 des Grundgesetzes war zwar nicht verfassungswidrig, aber der Bürger, der das Grundgesetz im Lichte seiner eigenen Erfahrungen las, konnte es im Verfassungstext auch nicht vorfinden und glaubte deshalb leicht an Manipulation.

Die Entwicklung hatte aber auch einen unbestreitbaren Vorteil. Die beiden großen Lager, die sich im Laufe der Zeit herausbildeten, konnten damit rechnen, dass sie in der Wahl die absolute Mehrheit der Wähler hinter sich vereinigen konnten. Allerdings mussten sie dazu in ihrer Programmatik und noch mehr in ihrem praktischen Verhalten auch alle Schichten der Bevölkerung ansprechen, und das hatte wiederum zur Folge, dass sie die oft widersprüchlichen Interessen der Bürger in ihren Programmen und nicht erst in Koalitionsverträgen oder Regierungserklärungen berücksichtigen und zu einem beträchtlichen Teil sogar ausgleichen mussten; gerade deshalb konnte man sie ja, im Gegensatz zu Klassen- bzw. Interessenparteien, als Volksparteien bezeichnen.

Das hatte seine Konsequenzen: Die Programme rückten enger zusammen, was oft als Konturverlust kritisiert wurde, aber andererseits wurden Regierungswechsel auf diese Weise nie zu totalen Kurswechseln, was erheblich zur politischen Stabilität beitrug. Das alles war eine respektable Leistung sowohl der Parteien als auch der Wähler. Die Ausfächerung des Parteiensystems wird diesen Effekt so gut wie sicher beseitigen. Das wird sich kaum verhindern lassen, aber die Folgen werden spürbar sein.

Übrigens änderte das Auftreten der Grünen an den geschilderten Verhältnissen zwei Jahrzehnte lang kaum etwas. Die FDP büßte zwar ihren Vorteil als alleiniger Mehrheitsbeschaffer ein. Da sie 1982 zur CDU/CSU überging und diese ihrerseits nicht mit den Grünen koalieren konnte, blieb aber alles beim Alten, jedenfalls was die Koalitionen betraf.

Das Regieren wird schwieriger

Bei diesen fast idyllischen Verhältnissen wird es schwerlich bleiben, wenn sich die Schrumpfung der Volksparteien fortsetzt und sich einmal vielleicht sogar sechs Parteien im Bundestag eingerichtet haben.

Schon die Entscheidung über die Person des Bundeskanzlers wird dann immer weniger in den Wahlkabinen fallen, und das wird umso wahrscheinlicher sein, je mehr Koalitionsmöglichkeiten sich anbieten. Zugleich wird es immer schwerer werden, stabile absolute Mehrheiten zu bilden und zusammenzuhalten. Im Klartext: Die Gefahr von Minderheitsregierungen wird wachsen, sei es, dass von Anfang an keine Koalition mit absoluter Mehrheit zustande kommt, sei es, dass eine solche Koalition auseinanderfällt und nur der Kanzler in seinem Sessel "kleben" bleibt, weil auch keine andere Kanzlerwahl gelingt.

Ein Minderheitskanzler dürfte aber ein sehr schweres Leben haben. Im Ausland und besonders in Brüssel wird er als "lahme Ente" gelten, deren Tage gezählt sind und mit der man daher keine längerfristigen politischen Projekte auf Kiel legt. Wer die moderne internationale Politik realistisch einschätzt, wird sich vorstellen können, wie nachteilig sich das für Deutschland auswirken kann.

Noch unangenehmer dürfte sich bemerkbar machen, dass sich ein Minderheitskanzler für jedes Gesetz, das er für nötig hält, die erforderliche Mehrheit im Parlament zusammenbetteln muss, weil seine eigene Fraktion ja über keine ausreichende Mehrheit verfügt. Er wird die unsinnigsten Kompromisse eingehen und die sachwidrigsten Kompensationsgeschäfte machen müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Dass ihm das Grundgesetz den schon erwähnten Gesetzgebungsnotstand anbietet, wird ihm wenig helfen, schon weil der Bundesrat in der Regel anders eingefärbt ist als Bundestag und Regierung.

Eine Lösung dieses Problems bietet das Grundgesetz bisher nicht an. Der an sich naheliegende Gedanke an ein Notverordnungsrecht ist durch ständigen Missbrauch während der Weimarer Zeit und erst recht während des NS-Regimes wohl auf ewig disqualifiziert. Das französische System, in dem die meisten notwendigen Vorschriften von vornherein nicht durch Gesetz, sondern durch Regierungsverordnung geschaffen werden, passt noch weniger zur deutschen Verfassung, und andere Lösungen sind nicht in Sicht. Man könnte zwar an ein Präsidialsystem à la USA denken, bei der für amerikanische Verhältnisse völlig unvorstellbaren Organisationsdichte und stringenten zentralen Führung der deutschen Parteien käme ein solcher Präsident jedoch kaum einmal zu den Gesetzen, derer er für seine Politik bedarf.

In Deutschland würde sich das übrigens noch viel unangenehmer bemerkbar machen als in den USA und Frankreich, weil hier praktisch für jede Aktivität der Exekutive eine detaillierte gesetzliche Grundlage gefordert wird. Es herrscht hier ein nahezu mystischer Glaube an die Gefährlichkeit der Exekutive und die Weisheit der Legislative. Das muss an sich nicht schlecht sein, aber es hat zur Folge, dass Regieren ohne feste Mehrheitskoalition hierzulande faktisch kaum möglich sein wird.

Übergang zu einem Mehrheitswahlrecht?

In solchen Situationen ertönt in Deutschland mit schöner Regelmäßigkeit der Ruf nach dem Mehrheitswahlrecht, das heißt im Klartext: nach einer künstlichen Verringerung der Parteienzahl durch Veränderungen im Wahlsystem. Ob das gegenwärtig der wirkliche Königsweg wäre, wird man bezweifeln dürfen. Die kleinen Parteien, also FDP, Grüne und Linke, würden ihrer faktischen Eliminierung wohl kaum zustimmen. Sie müsste also von Union und SPD allein durchgeboxt werden, und für die Wähler würde das so aussehen, als ob die beiden Großen sich durch einen legislativen Trick nur unliebsamer Kritiker und Konkurrenten entledigen wollten. Dem Vertrauen in unser Verfassungssystem würde das, vorsichtig formuliert, nicht gut tun.

Ärgerlich ist an diesem Teil der öffentlichen Diskussion, dass zwar viele das Mehrheitswahlrecht fordern, dass aber kaum jemand sagt, welches Mehrheitswahlrecht er denn eigentlich meint.

Soll - wie in Großbritannien - zur Wahl des einzelnen Abgeordneten die einfache Mehrheit im Wahlkreis ausreichen, so besteht zunächst einmal die Gefahr, dass bundesweit gesehen eine Minderheit der Stimmen zur Mehrheit der Parlamentsmandate führt. Die englischen Wähler sind offenbar bereit, das hinzunehmen - die deutschen würden es nie. Dass der Übergang zu diesem Wahlsystem die "administrative" und endgültige Verdrängung der kleineren Parteien bedeuten würde, versteht sich von selbst. Die Wähler würden das die großen Parteien sicher fühlen lassen, und zwar empfindlich.

Nicht ganz so krass liegen die Dinge beim französischen Wahlsystem, das zur Wahl des einzelnen Abgeordneten eine absolute Mehrheit im Wahlkreis verlangt und damit in den meisten Fällen eine Stichwahl bedingt. Die kleineren Parteien können sich hier am ersten Wahlgang völlig ungehindert beteiligen. Zwischen den Wahlgängen müssen sie dann allerdings Unterstützungsverträge mit einer der großen Parteien schließen, um mit deren Hilfe in ihren eigenen Hochburgen Kandidaten durchzubringen. Sie hätten also eine reale Überlebenschance, nur müssten sie bereit sein, sich einer größeren Parteiengruppierung anzuschließen. Fraglich ist natürlich, ob die Wähler den Übergang zu einem solchen Wahlsystem gegen den Willen der kleinen Parteien eher akzeptieren würden als den zum britischen System.

Koalitionsregierungen im Bundesrat

Die Zahl der Mehrparteienregierungen wird sich, wenn nicht alles trügt, zunächst vor allem auf Länderebene vermehren. Das wird einen Nebeneffekt auf Bundesebene erzeugen, der bisher, soweit ersichtlich, noch nie erörtert worden ist. Es geht dabei um die Abstimmungen solcher Regierungen im Bundesrat. Sind alle Koalitionspartner einer Meinung, so gibt es keine Probleme. Treten sie aber für verschiedene Abstimmungsvoten ein, so bestimmen die Koalitionsverträge in der Regel, dass sich das Land im Bundesrat der Stimme zu enthalten hat, und da beginnen die Schwierigkeiten.

Nach dem Grundgesetz bedürfen Beschlüsse des Bundesrates nämlich "mindestens der Mehrheit seiner Stimmen". Das bedeutet, dass eine Stimmenthaltung praktisch wie eine Neinstimme wirkt und dass daher alles von der zur Entscheidung gestellten Frage abhängt. Bei den sogenannten Einspruchsgesetzen, bei denen der Bundesrat nacheinander nur den Vermittlungsausschuss anrufen und Einspruch einlegen kann, käme es bei zu vielen Stimmenthaltungen weder zum einen noch zum anderen; das ließe sich zur Not noch ertragen. Zustimmungsgesetze, die ohne Zustimmung des Bundesrates nicht zustande kommen können, sind im gleichen Fall aber gescheitert, und zu ihnen gehören vor allem die meisten Finanzgesetze des Bundes!

Auch in dieser Beziehung wird sich durch den Umbruch in unserem Parteiensystem also einiges ändern, allerdings etwas, was sich durch eine schlichte Verfassungsänderung lösen lässt: Es sollte bestimmt werden, dass für Beschlüsse des Bundesrates - wie schon bisher für die des Bundestages - ein Überwiegen der Jastimmen über die Neinstimmen ausreicht. In allen anderen Fragen, die hier angerissen worden sind, wird die Entscheidung nicht so leicht sein. Notwendig ist zumindest eine breite und ernsthafte Debatte, damit möglichst jeder Wähler die Folgen seines Wahlverhaltens abschätzen kann.

© SZ vom 06.03.2008/grc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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