Reportage:Schleuderfahrten auf der Achterbahn

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Ein lange unsichtbarer Gegner, ein dicker Kater und ein Skalp am Gürtel - wie Bush & Co. mit dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen umgingen.

Von Wolfgang Koydl

Washington, 3. November - Eigentlich ist Andrew Card ja nicht der Typ von Mann, dem man bangend entgegenfiebern würde, schon gar nicht nach einer durchwachten Nacht.

Auf einer demokratischen Wahlparty gab man sich schon früh Siegesgewiss. (Foto: Foto: Reuters)

Und eigentlich hatten die letzten Parteisoldaten, die morgens um sechs noch aufrecht standen im Ronald Reagan Building im Herzen von Washington, den Präsidenten selber erwartet und nicht seinen farblosen Stabschef.

Doch am Ende jubelten sie auch ihm zu, und obwohl die meisten mit rot geränderten Augen zu ihm auf die Bühne hinaufstarrten, waren Erschöpfung und Müdigkeit schlagartig wie weggeblasen.

Denn Andrew Card verkündete den Sieg, den Sieg für George W. Bush in einem nervenaufreibenden Wahldrama, das nach Ansicht vor allem des demokratischen Gegenspielers John Kerry noch lange nicht vorbei war. Erst sechs Stunden später griff Kerry zum Telefonhörer und gestand Bush seine Niederlage ein.

In den frühen Morgenstunden hatte der Präsident lange genug seine Wahlhelfer, die sich zur Siegesparty in dem monströsen Bürogebäude an der 14.Straße versammelt hatten, warten lassen. Immer wieder hatte es geheißen, er werde selber den kurzen Weg herüberkommen vom Weißen Haus, wo in dieser Nacht das Licht nicht ausging im Wohnzimmer des mächtigsten Mannes der Welt.

Bushs engste Berater, Card, Karl Rove, Karen Hughes, sie alle hatten sich bei ihm eingefunden und hatten nicht anders als der Rest der Nation auf die rot und blau gescheckten Landkarten gestarrt, welche die Fernsehsender zeigten.

Ein Lächeln, eine Maske

Sobald Nevada und New Mexico ihre Ergebnisse vorlegen würden, so ließ das Bush-Team streuen, werde der Präsident sich zum Sieger erklären. Doch in New Mexico hatte der demokratische Gouverneur Bill Richardson ein vorzeitiges Ende der Auszählung verfügt, in Iowa waren die Wahlhelfer ermattet vor Abschluss ihrer Aufgabe nach Hause gegangen, und in Ohio schien ein neues Wahlfiasko zu drohen, ähnlich wie jenes vor vier Jahren in Florida.

Doch für das Weiße Haus bestand kein Zweifel: George Bush ist für eine zweite Amtszeit bestätigt worden. "Respektvoll", wie es Card nannte, räume der Präsident seinem Gegenkandidaten noch mehr Zeit ein, über die Ergebnisse nachzudenken.

Kerry war freilich die ganze Nacht lang nirgendwo zu sehen gewesen. Er werde reden, ließ er kurz vor Mitternacht ausrichten, wenn es etwas zu sagen gebe. Doch das schien lange nicht der Fall zu sein, denn irgendwann schickte er seinen Vize John Edwards voraus.

Nur kurz blitzte dessen Hollywood-Lächeln auf, als er vor die Parteigetreuen in Boston trat. Dann verfestigte sich sein Gesicht zur Maske. "Jede Stimme zählt, und wir werden dafür sorgen, dass jede Stimme gezählt wird", erklärte Edwards - es klang trotzig, aber nicht so, als ob er große Hoffnungen hätte, das Blatt doch noch zu wenden.

Nur Siegesrede vorbereitet

Bush hingegen gab sich schon früh am Abend siegesgewiss. Er hatte, wie den Medien mit unverhohlenem Stolz mitgeteilt wurde, nur eine einzige Rede vorbereitet - für den Fall seines Sieges.

Der Senator dagegen hatte sich dem Vernehmen nach auch für den Fall einer Niederlage Notizen gemacht. Er brauchte sie.

Für die beiden Kandidaten und ihre engsten Mitarbeiter war die zermürbende Wahlnacht nur der Abschluss eines nicht weniger zermürbenden Wahlkampfes, der noch nicht einmal am Wahltag selbst ein Ende gefunden hatte.

John Kerry gab noch bis kurz vor acht Uhr abends von seinem Haus im Bostoner Nobelviertel Beacon Hill aus über Satellit Interviews, die in umkämpften Wahlbezirken ausgestrahlt wurden.

Erst dann konnte er sich mit Ehefrau Teresa, den beiden Töchtern Alexandra und Vanessa sowie engen Freunden zum Abendessen niedersetzen.

Auch Präsident Bush hatte bis zuletzt um Wähler geworben. Die Nacht hatte er auf seiner Ranch in Texas verbracht; dort gab er am Morgen auch seine Stimme ab - im Feuerwehrhaus von Crawford.

"Ich bin es wirklich"

Doch anstatt auf direktem Weg zurück nach Washington zu fliegen, machte er einen Umweg über den bis zuletzt umkämpften Bundesstaat Ohio. Hier klemmte er sich ein Handy ans Ohr und rief persönlich unentschlossene Wähler daheim am Frühstückstisch an. "Sie können es mir glauben, ich bin es wirklich", teilte er aufgekratzt den verdutzten Wahlbürgern mit.

Zogen sich die Mühen des Wahlkampfes bis in den Wahltag, so begann das Drama der Auszählung lange, bevor die meisten Wahllokale in den USA öffneten. Für endlos lange 36 Tag-und-Nacht-Stunden fanden sich die beiden Kandidaten und die Millionen von Wählern auf einer Achterbahn wieder, welche sie in atemberaubender Fahrt abwechselnd von optimistischen Höhen in depressive Tiefen stürzte.

Positiven Meldungen folgten negative Nachrichten, und die Raserei kam nicht einmal in den frühen Morgenstunden des Mittwoch zum Stillstand, als die meisten Passagiere vermutlich längst aussteigen oder zumindest ins Bett gehen wollten.

Lange bevor die Amerikaner erwachten, hatte der Wahltag mit guten Nachrichten für den Präsidenten begonnen: Auf der Pazifikinsel Guam, eine halbe Globusumdrehung und eine Datumsgrenze von Washington entfernt, hatte er einen ersten, deutlichen Sieg errungen.

Und als kurz nach Mitternacht die paar Dutzend Bewohner von Dixville Notch und Hart's Location, zwei Weilern im unwirtlichen Norden des Bundesstaates New Hampshire, als erste US-Bürger auf dem amerikanischen Festland zur Wahl gingen, fiel die Entscheidung ebenfalls zugunsten des Amtsinhabers aus.

Für die Wahlarithmetik mögen weder der Außenposten im Pazifik noch die kalte Gebirgsregion an der kanadischen Grenze eine Rolle spielen, doch symbolisch hatte zumal das Resultat in New Hampshire Bedeutung: Denn eine amerikanische Wahllegende will wissen, dass Dixville Notch noch bei jeder Präsidentschaftswahl für den späteren Sieger gestimmt hat.

Auf und ab

Im Laufe des Nachmittags indes sank der Mut der Bush-Leute und stattdessen stahl sich ein selbstzufriedenes Lächeln in die Mienen demokratischer Politiker.

Denn Wählerbefragungen vor den Wahllokalen in mehreren Staaten hatten klare Mehrheiten für den demokratischen Herausforderer ergeben. Er schien sich so klar wie nie erhofft auf der Siegerstraße zu befinden.

Die TV-Sender hatten zwar gelobt, diesmal diese Umfrageergebnisse nicht zu veröffentlichen. In der Vergangenheit war gerügt worden, dass diese Zahlen Wähler in jenen Landesteilen beeinflusst haben könnten, in denen die Wahllokale noch nicht geschlossen waren.

Doch das Fernsehen machte die Rechnung ohne das Medium Internet: Sowohl die rechtsgewirkte Website Drudge Report als auch das linke Online-Magazin Slate stellten die positiven Zahlen ins Web, und Talkshow-Radios überall im Land nutzten diese Schreckens-Informationen, um zaudernde Bush-Wähler an die Urnen zu peitschen.

So sicher waren sich die Demokraten ihres Erfolges, dass der demokratische Senator Edward Kennedy schon unmittelbar nach der Schließung der ersten Wahllokale bei einem Fernsehauftritt alle Mühe hatte, seinen Senatskollegen und Landsmann aus Massachusetts nicht hier und gleich zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten auszurufen.

Und als ihn der TV-Journalist Wolf Blitzer vom Kabelsender CNN ein wenig irritiert fragte, ob er nicht enttäuscht wäre, wenn Kerry die Wahl vielleicht doch noch verlöre, da grinste Kennedy so satt und selbstgefällig wie der Comic-Kater Garfield nach einem besonders gelungenen Streich, bevor er doch noch den Satz herauspresste: "Ja, wäre ich schon, aber ich glaube eigentlich nicht, dass ich enttäuscht sein werde."

Bitter, teuer, schmutzig

Für die ersten Stunden dieser unendlichen Wahlgeschichte konnte freilich nicht nur Kennedy zufrieden sein, sondern auch George Bush. Denn lange Zeit änderte sich an der Wahlkarte nichts im Vergleich zur Wahl von 2000.

Dies ist wohl die erstaunlichste Überraschung der Wahl von 2004, dass es eigentlich keine Überraschung gab: Bush gewann alle Staaten, die er schon vor vier Jahren gewonnen hatte, Kerry siegte in den Staaten, die damals Vizepräsident Al Gore zugefallen waren.

Erst spät am Abend konnte er wenigstens das kleine New Hampshire für sich verbuchen, das vor vier Jahren ganz knapp Bush den Vorzug gegeben hatte.

Doch vor vier Jahren schien im Vergleich zu heute gar nichts auf dem Spiel zu stehen. Es gab kaum einen Unterschied zwischen den beiden Bewerbern.

Das Land lebte im Frieden, frei von Krieg und Terror, und das stacheligste Streitthema war die Frage, wie man am besten den Haushaltsüberschuss anlegen sollte, den Präsident Bill Clinton angehäuft hatte.

Aber hatten die letzten vier Jahre das Land nicht gespalten? Unter Präsident Bush erlebten die USA den schlimmsten Terroranschlag ihrer Geschichte, sie führten zwei Kriege in Afghanistan und im Irak, ihr Präsident entfremdete sie fast der ganzen Weltgemeinschaft, die Budgetüberschüsse verwandelten sich in Defizite, und die Nation leistete sich nicht nur einen der bittersten, teuersten und schmutzigsten Wahlkämpfe der jüngeren Geschichte, sondern war auch in einen Kulturkampf über Wertefragen von der Abtreibung bis zur Schwulenehe verstrickt.

Doch die Wähler schienen davon nicht berührt zu sein. Staat für Staat blieb sich treu und stimmte ab, wie es erwartet worden war: New York für Kerry, Texas für Bush, der Süden blieb rot eingefärbt, in der Farbe der Republikaner, der Nordosten demokratisch blau.

Mehrheit der Wähler hinter sich

Doch bei genauer Betrachtung erwies sich dieses Bild als trügerisch. Denn Bush machte an anderen Fronten Boden wett: Zum einen scharte er deutlicher als jeder andere Präsident vor ihm die Mehrheit der Wähler hinter sich.

Fast fünf Millionen Stimmen Vorsprung trennten ihn von Kerry; nicht schlecht für einen Politiker, der vor vier Jahren die Wählermehrheit um eine halbe Million Stimmen verpasste.

Außerdem bauten die Republikaner souverän ihre ohnehin schon erdrückende Majorität im Repräsentantenhaus und im Senat aus. Im Südstaat Louisiana wurde zum ersten Mal seit 150 Jahren ein Republikaner in den Senat gewählt, und mit ganz besonderer Genugtuung dürften sich die Republikaner den Skalp Tom Daschles aus South Dakota an den Gürtel heften.

Als Führer der Demokraten im Senat gehörte er zur Spitzengarnitur seiner Partei, und noch nie zuvor hatte ein Politiker seines Kalibers seinen Sitz eingebüßt.

Doch diese Strömungen wurden lange nicht sichtbar in der Wahlnacht, in der sich jedermann auf den Kampf ums Weiße Haus konzentrierte. Erst um Mitternacht begann die Stimmung zu Gunsten von Bush & Co. zu kippen.

Denn bis zur Geisterstunde dauerte es, ehe das Ergebnis in Florida bekannt wurde. Der Staat, der vor vier Jahren mit berüchtigten Schmetterlingsstimmzetteln, einer Nachzählung und letztlich einem hochrichterlichen Urteilsspruch in die Geschichte einging, verhielt sich diesmal vorbildhaft: Offenbar weitgehend ohne Unregelmäßigkeiten entschieden sich die Wähler deutlich für den Präsidenten.

Sein Vorsprung betrug mehr als 300.000 Stimmen, nicht 357 wie beim letzten Mal.

Plötzlich tauchten alle Zweifel an dem Kandidaten Kerry wieder auf, die in den vergangenen Wochen eigentlich zu Grabe getragen zu sein schienen. War er nicht zu steif und unsympathisch, um beim Wähler anzukommen?

Warum kommt er jetzt nicht heraus zu seinen frierenden Anhängern auf der Copley Plaza in Boston, anstatt sich in seinem Herrenhaus zu verschanzen?

War es wirklich eine gute Idee, den unerfahrenen Senator John Edwards zum Vizepräsidentschaftskandidaten zu nehmen, wenn dieser dem demokratischen Team letzten Endes keinen einzigen Südstaat zuführen konnte? Mit dem Sieg in Florida konnte sich zum ersten Mal in dieser langen Nacht der Amtsinhaber im Weißen Haus wirklich Hoffnungen auf eine zweite Amtszeit machen.

Wie ein Stachelfisch

Derweil sich die Anhänger Kerrys, die sich im Zentrum Bostons zu einer geplanten Siegesfeier eingefunden hatten, allmählich im kalten Nieselregen davonschlichen, brach im hell erleuchteten Ronald Reagan Building in Washington unter den Republikanern Jubel aus.

Er steigerte sich zur Verzückung, als in den frühen Morgenstunden dann nach den Meldungen einiger TV-Sender auch endlich Ohio, der Schlüsselstaat, dem Präsidenten zuzufallen schien.

Damit hatte Bush die magische Zahl von 269 Wahlmännerstimmen erreicht, nur noch eine Stimme trennte ihn von der Mehrheit, derweil Kerrys Traum vom Weißen Haus ausgeträumt zu sein schien.

Doch auch die hochfliegenden Träume der Republikaner wurden rasch wieder auf den Boden geholt, als bekannt wurde, dass ihre Mehrheit in Ohio vielleicht doch nicht ausreichen würde, jedenfalls dann nicht, wenn alle provisorischen Stimmzettel dazugerechnet würden, die von jenen Wählern ausgefüllt wurden, deren Namen nicht im Wählerverzeichnis standen.

Ohio als neues Florida, mit wochenlangen Aus- und Nachzählungen? Zornbebend wie ein Stachelfisch, der sich zur vollen Rundung aufgebläht hat, wies Ken Blackwell, Innenminister des für seinen eher drögen Menschenschlag bekannten Bundesstaates, diesen Verdacht zurück. "Ich empfehle allen, tief durchzuatmen und sich zu entspannen", meinte er.

Sein Aufruf zur Geduld kam nicht von ungefähr, denn wenn der Ausgang der Präsidentenwahl wirklich von knapp 200.000 provisorischen Stimmzetteln abhängt, dann stehen den USA und der Welt eine lange Wartezeit bevor.

Diese Voten dürfen erst am elften Tag nach dem Wahltag ausgezählt werden. "Das ist das Gesetz, das ist das System", wie Blackwell ungebärdig betonte.

Klare Verhältnisse schaffen

So lange freilich wollte Bush nicht warten. Nach seiner Zählung ist sein Vorsprung in Ohio so uneinholbar groß, dass ihn Kerry selbst dann nicht wettmachen kann, wenn die Hälfte aller provisorischen Wähler ihm ihre Stimme gegeben hätten.

Eine Denkpause hat Bush dem Gegner zwar eingeräumt, aber er hat zu verstehen gegeben, dass er ihm nicht viel Zeit geben wird. Bush will nicht tief durchatmen und sich entspannen, er will möglichst schnell klare Verhältnisse schaffen.

Anders als vor vier Jahren hat er die Mehrheit der amerikanischen Wähler dabei hinter sich.

© SZ vom 4.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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