Reportage:Chronik eines vorhersehbaren Mordes

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Die Behörden waren alarmiert, aber machtlos. Nach dem gewaltsamen Tod des neunjährigen Peter A. aus München bleibt die Frage: Warum? Von Tanja Rest

München, 21. Februar - Wenn man das menschlich Erschütternde dieser Tat einmal beiseite lässt, die Kaltblütigkeit des Mörders, der seinen Anschlag schon lange zuvor bis ins Kleinste, bis zur Besorgung von Handschellen und Müllsack geplant hatte; die Blauäugigkeit der Eltern, die vor diesem Mann eindringlich gewarnt worden waren und ihm den Umgang mit dem neun Jahre alten Peter dennoch gestatteten; die Qual jenes anderen Elternpaares, dessen Sohn vor elf Jahren von demselben Täter abgeschlachtet wurde - wenn man all dies einen Augenblick lang von sich schiebt, dann bleibt eine Frage übrig.

In dieser Wohnblock im Münchner Stadtteil Neuperlach lebte der kleine Peter mit seiner Familie. (Foto: Foto: dpa)

Wie kann das sein? Wie kann das sein, dass ein Kindermörder nach neuneinhalb Jahren Haft auf freien Fuß gesetzt wird, obwohl ihn ein abschließendes Gutachten als zwar nicht psychisch krank, aber als "gefährlich" einstuft?

Wie kann das sein, dass er frei bleibt, obwohl er sich nicht an die Auflagen hält, Therapieversuche reihenweise abbricht, wiederholt Kontakt zu kleinen Jungen sucht und so schließlich das Sozialreferat auf den Plan ruft? Kurz: Wie kann das sein, dass die Behörden alarmiert waren, aber - so der Münchner Sozialreferent Friedrich Graffe - "keine Handhabe" hatten?

Regelmäßiger Gast der Familie

Der Münchner Stadtteil Neuperlach. Es ist Donnerstag, der 17. Februar, als der 28 Jahre alte Martin Prinz den neunjährigen Peter A. auf dem Nachhauseweg von der Schule abpasst. Peter kennt den Mann gut, er ist ein Freund des Vaters und regelmäßiger Gast der Familie.

Unter einem Vorwand bringt Prinz den Jungen dazu, mit ihm ins Auto zu steigen und in das Wohnheim an der Wasserburger Landstraße zu fahren - ein tristes Konglomerat kasernenartiger Behelfsbauten, in dem Prinz seit einigen Monaten lebt. Hier liegen schon die Handschellen und Müllsäcke bereit, hier missbraucht der Mann den Jungen sexuell.

Als Peter droht, den Eltern davon zu erzählen, steckt Prinz den Kopf des Jungen in eine Tüte, packt eine Schnur und zieht zu. Anschließend fährt Martin Prinz zu den Eltern, ein paar Stunden lang beteiligt er sich zum Schein an der Suche nach dem Sohn. Schließlich fährt er zurück ins Wohnheim. Er vergeht sich am Leichnam des Jungen, dann stopft er ihn in einen Müllsack und wirft ihn in den Container hinter dem Haus. Dort findet ihn am Freitag die Polizei.

Stiche im Todesrausch

Hätte diese Tat verhindert werden können? Hätte etwa ein schärferes Jugendstrafrecht, wie es nun die bayerische Justizministerin Beate Merk fordert, oder gar eine Zwangstherapie, für die sich Bayerns Innenminister Günther Beckstein (beide CSU) stark macht, Peter möglicherweise das Leben retten können?

Martin Prinz nämlich hat schon einmal gemordet. Da war er 18, machte eine Kaufmanns-Lehre und war - Sohn eines tief gläubigen Katholiken - in der Regensburger Pfarrei Herz-Marien Ministrant. Am 13. Oktober 1994 betete er mit seinem Vater in der Kirche noch einen Rosenkranz, danach riss er den elfjährigen Ministranten Tobias H. vom Fahrrad und missbrauchte ihn.

Als der Junge um Hilfe schrie, zog Prinz ein Butterfly-Messer und hieb minutenlang auf ihn ein. Tobias erstickte nach einem tiefen Stich in die Lunge. Bei der Obduktion wurden später mehr als 70 Verletzungen gezählt. Nach dem Jugendstrafrecht, das eine Höchststrafe von zehn Jahren Haft vorsieht, wurde Martin Prinz zu neun Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Erster Missbrauch mit 16 Jahren

Weil er einem Gutachter gestand, im Alter von 16 Jahren in einer Schwimmbad-Kabine schon einmal einen Jungen missbraucht zu haben, wurde die Strafe auf neuneinhalb Jahre ausgeweitet und eine vorzeitige Entlassung ausgeschlossen.

Während der Haft in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim sprach wenig dafür, dass aus dem Mörder Prinz einmal ein besserer Mensch werden könnte. Eine Sexualtherapie beendete er nicht, im letzten von insgesamt drei psychiatrischen Gutachten ist von Persönlichkeitsstörungen und Pädophilie die Rede - allerdings nicht in einem Ausmaß, das die "Steuerungsfähigkeit" beeinträchtigen würde. Prinz wurde als durchschnittlich intelligent und zurechnungsfähig eingestuft.

Trotz Bedenken der Gutachter schied eine Sicherungsverwahrung nach verbüßter Haftstrafe aus: Prinz wurde nach dem Jugendstrafrecht verurteilt, welches eine solche Maßnahme nicht vorsieht.

Blieben also lediglich verschiedene Auflagen, als Prinz im April 2004 entlassen wurde: Er sollte sich wöchentlich bei einer "Führungsaufsicht" melden, eine Therapie machen, und er durfte keine Kinder beaufsichtigen - ein völliges Kontaktverbot mit Kindern kann die Justiz bislang nicht verhängen.

An keine dieser Auflagen hat sich Martin Prinz gehalten: Bei der Bewährungshelferin erschien er nur unregelmäßig, fünf Therapieversuche in Folge scheiterten. Im Wohnheim wurde er im August 2004 in Gesellschaft eines Jungen gesehen, mit Peter war er häufig alleine. Er wurde mehrmals verwarnt - bestraft werden konnte er nicht.

Der Münchner Staatsanwalt Peter Boie hat am vergangenen Sonntag die "begrenzte Handhabe" der Behörden heftig kritisiert. Martin Prinz sei "erkennbar gefährlich" gewesen, es sei "klar" gewesen, dass "eine Verhaltensänderung nicht stattgefunden" habe. "Das Instrumentarium der Führungsaufsicht reicht nicht aus", sagte Boie, "in einem Fall wie diesem ist das Gesetz fast zahnlos."

Instrumentarium Familie

Während die Diskussion über eine Gesetzesverschärfung zur Kontrolle rückfallgefährdeter Straftäter in vollem Gang ist, rückt noch ein anderes Instrumentarium ins Blickfeld, das im Fall Peter A. versagt hat: das Instrumentarium der Familie.

Neuperlach im Münchner Osten. Wer vom Zentrum über die Schnellstraße kommt, hat das Gefühl, in eine Satellitenstadt einzutauchen, die mit dem properen Vorzeige-München so gar nichts zu tun hat. Strategisch platzierte Einkaufscenter, sonst nur wenige Geschäfte und kaum Menschen auf den Straßen.

Kosename "Atti"

Die Gegend ist wie in sich erstarrt. In der Plettstraße dient ein aufgebockter Baucontainer als Pilsstube, rundum reihen sich gleichförmig die Wohnblocks. Vor langer Zeit sind sie mal farbig angestrichen worden, heute sehen sie grau aus.

In einem dieser Häuser lebt die Familie des ermordeten Peter A. Die Mutter gilt als geistig schlicht, der Vater hat wegen mehrmaliger Vergewaltigung selbst viele Jahre in der JVA Stadelheim verbracht. Zwei Stadelheim-Bekanntschaften waren später Stammgäste bei Familie A.: Der eine hatte eine Krankenschwester vergewaltigt und ermordet - der andere hieß Martin Prinz. Er hatte leichtes Spiel. "Es war die klassische Anbahnung in einer Familie", wie Sozialreferent Friedrich Graffe sagte.

Am 28. Januar teilte die Bewährungshelferin dem Sozialreferat in einem Schreiben mit, dass sie die Familie über die Gefahr durch Martin Prinz informiert habe. Die Mutter habe daraufhin "keinerlei Verhaltensänderung" gezeigt. Graffe betonte, Prinz sei als "freier Mann, der seine Haftstrafe abgesessen hat und offenkundig das Vertrauen der Familie genoss" im Haus ein- und ausgegangen, die Kinder hätten ihm sogar den Kosenamen "Atti" gegeben.

"Ich sehe nicht", so Graffe weiter, "aus welchem Anlass wir die Kinder aus der Familie hätten nehmen sollen. Es gab keine Handhabe, zum Schutz der Kinder einzugreifen." Für eine solche Maßnahme müsse ein konkreter Verdacht vorliegen. Befürchtungen reichten nicht aus.

Stattdessen führten die Mitarbeiter des Sozialreferats Gespräche: mit dem Personal der Heilpädagogischen Tagesstätte, die Peters Bruder Christian besucht, mit der Klassenlehrerin von Peters Schwester Anna, mit Peters Klassenlehrerin. Auch der Besuch eines Sozialpädagogen bei der Mutter hätte noch stattfinden sollen, Termin war der 18. Februar. Einen Tag vorher hat Martin Prinz den neunjährigen Peter ermordet.

© SZ vom 22.02.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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