Reportage:Ausbruch aus dem inneren Gefängnis

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Schriftsteller Wally Lamb bringt Frauen in einer US-Haftanstalt literarisches Schreiben bei und hilft ihnen so, ihre eigene Geschichte zu verarbeiten.

Von Andrea Bachstein

(SZ vom 23.10.2003) - Niantic – An diesem Mittag ist Wally, wie ihn hier alle nennen, wieder da, freudig erwartet von seinem Kurs: In der Bibliothek, einem langen Raum mit Bücherregalen und einer Fensterfront mit auffallend dicken Scheiben, sitzt ein Dutzend Frauen an Schultischen. Alle tragen dunkelrote T-Shirts und Blue Jeans. Und sie lernen von Wally Lamb, wie man schreibt. Es geht nicht um das Abc, sondern um Creative Writing, in US-Colleges ein übliches Fach, in dem man erfahren kannlernt, wie man literarische Techniken am besten anwendet.

Aber Niantic ist kein College. Die York Correctional Institution ist die einzige Frauenhaftanstalt Connecticuts. Viele der 1400 Frauen im Alter von 16 bis 60 Jahren sitzen hier wegen Drogendelikten ein, aber es sind auch Mörderinnen und Totschlägerinnen dabei, Betrügerinnen und Räuberinnen. Rund 400 von ihnen lernen hier, mit dem Computer umzugehen – oder einfach Lesen und Schreiben.

Brenda Medina, 28, hat lange schwarze Haare und einen traurigen Gesichtsausdruck. Ihrem Englisch hört man an, dass sie Kind einer puertoricanischen Familie ist. Seit zehn Jahren ist sie im Gefängnis, ihre Strafe: 25 Jahre ohne Bewährung, wegen gemeinschaftlichen Mordes. „Die Hölle und wie ich dorthin kam“, heißt ihre Erzählung. Ihre psychisch kranke Mutter kommt darin vor, ferner die Bande, in die sie mit 14 Jahren geriet, in der es Anerkennung gab – wenn man tat, was die Jungs befahlen.

Im Knast hat sie den High-School-Abschluss gemacht, heute bringt sie spanischsprachigen Insassinnen Englisch bei. Mit Hilfe des Schreibens hat sie, statt in dumpfer Wut zu verharren, ein Bewusstsein zu entwickeln gelernt, hat sie begriffen, wie selbstzerstörerisch sie sich oft verhalten hat. „Ich habe angefangen, über mein Leben zu schreiben, weil es die einzige Weise war, an diesem Ort der Verwirrung nicht den Verstand zu verlieren“, sagt sie.

Die Geschichte Brenda Medinas kann man nachlesen. Denn aus den Geschichten, die Wally Lambs Schülerinnen verfasst haben, ist ein Buch geworden. „Couldn‘t keep it to myself“ heißt es – „Von der Seele geschrieben“ ist der Titel der nun erschienenen deutschen Ausgabe. Die Texte handeln nicht nur vom Gefängnisleben, sondern vor allem von dem, was davor lag. Selbstmitleid kommt darin nicht vor.

Nur für einen Nachmittag

Vor vier Jahren ist Wally Lamb zum ersten Mal ins Gefängnis gekommen. Er hatte sich auf Bitte einer Bibliothekarin auf den Weg durch die vielen sonst verschlossenen Stahltüren gemacht, und er hatte damals gedacht, er würde nur für einen Nachmittag vorbeischauen. Der Mann ahnte nicht, welche Bedeutung er für das Leben einiger der Frauen bekommen würde. Denn er hat ihnen Türen geöffnet, in eine Freiheit, die sie zuvor nicht kannten.

Inzwischen war er so oft da, dass er im Knast ein Schildchen am Hemd trägt, das vermerkt, er dürfe sich hier ohne Begleitung von Wachen bewegen. Wally Lamb ist 55 Jahre alt, grauhaarig und einer, der kein Aufhebens macht um seine Person. Er spricht eher leise und kann gut zuhören. Er sagt, er sei stets ein Idealist gewesen, einer, dem Gerechtigkeit wichtig ist.

Vor allem ist Wally Lamb aber immer ein Lehrer gewesen, hat an Schulen und Hochschulen seines Heimatstaats Connecticut unterrichtet, hat eine Lehrerin geheiratet, und einer der drei Söhne unterrichtet nun auch schon. Irgendwann ist Wally Lamb außerdem Schriftsteller geworden. Mit einigem Erfolg, seine Romane „She‘s come undone“ („Die Musik der Wale“) und „I Know This Much Is True“ („Früh am Morgen beginnt die Nacht“) waren in den USA Beststeller.

Das Buch der wahren Gefängnisgeschichten ist in den USA kein Bestseller geworden, aber es hat Aufsehen in den Medien erregt. Nicht nur, weil es in unbekannte Welten blicken lässt. Eher, weil Opferschutzverbände es kritisiert haben, auch wenn darin keine Tat verharmlost, keine Schuld verleugnet wird.

Außerdem hat das Justizministerium von Connecticut ein fast nie angewandtes Gesetz hervorgezogen, nach dem Inhaftierte für die Kosten ihrer Haft zahlen sollen – so wurden von den mittellosen Frauen manchmal sogar 300 000 Dollar gefordert. Ihr Anteil am Bucherlös beträgt rund 5600 Dollar und ist eingefroren. Ein Verfahren ist noch in Gang.

Gerade besprechen die Frauen in Wally Lambs Kurs drei Gedichte, die er mitgebracht hat, jede der Frauen muss erklären, warum ein bestimmtes Poem sie besonders berührt. Jede, die sich zu Wort meldet, formuliert bemerkenswert eloquent und drückt sich präzise aus. Lamb lenkt behutsam, fragend. Wie einen „Trainer an der Seitenauslinie“ sehe er sich oft, sagt er.

Der Kurs hat für Lamb Collegeniveau, auch wenn die Gefangenen meist keine ordentliche Ausbildung mitbringen. Mancher Lehrer würde von einer so konzentrierten Klasse träumen. Wahrscheinlich würde aber keiner davon träumen, dass die Schülerin neben ihm wegen gemeinschaftlichen Mordes verurteilt ist.

25 Jahre wegen Totschlags etwa hat Barbara Parsons Lane bekommen, mit 55 die Älteste im Kurs. Zu ihren Füßen liegt mäuschenstill ein Golden Retriever, seine Herrin bildet im Gefängnis Hunde dafür aus, behinderten Menschen zu assistieren. Sie kommt aus keinem Ghetto, sie gehörte der unteren weißen Mittelschicht an, war Altenpflegerin.

Die Mutter dreier Kinder hat den Mann erschossen, der sie über Jahre gedemütigt, betrogen, missbraucht und mit dem Tode bedroht hatte, der seine psychische Erkrankung mit Alkohol behandelte. Auch in ihrer Geschichte gibt es eine seelisch kranke Mutter. Es gibt das Kind Barbara, das missbraucht wurde und nicht darüber reden durfte.

Schreiben ist auch für Barbara Parsons Lane zur Therapie geworden, ein Heilprozess, sagt sie, die unter einem schweren posttraumatischen Stresssyndrom leidet: „Niemand will dir zuhören – aber sie interessieren sich dafür, was du schreibst.“ Wally, sagt sie, „lässt uns tiefer wühlen in unseren Erinnerungen, er bringt uns dazu, zu denken.“

Eine andere Gefangene sagt: „Erst hier habe ich gemerkt, was ich kann, ich habe gelernt und mein Leben zum Guten verändert.“ Als einen Glücksfall betrachtet sie die Haft, und es schaudert einem bei dem Gedanken, dass das womöglich stimmt.

Offenbar gab es ja auch für Brenda Medina und Barbara Parsons Lane draußen keinen, der geholfen hätte. Keine Stelle, an die sie sich hätten wenden können, ehe sie kriminell wurden und zu den circa 21 000 Häftlingen in Connecticut hinzukamen, zu ungefähr 2,2 Millionen Menschen in den Gefängnissen der USA insgesamt. Wenn man mit diesen Frauen spricht, ahnt man, dass das Schreiben zumindest aus ein paar von ihnen Menschen macht, die solche Taten nicht mehr begehen würden, für die sie nun büßen.

Suche nach eigener Schuld

Der Lehrer, der so etwas bewirkt, sagt, auch er habe eine Menge gelernt im Gefängnis. Über Menschen und wohl auch über das Justizsystem. Viele der Gefangenen seien traumatisiert durch ihre Vorgeschichte, sagt er, „und sie werden unmenschlich behandelt“. Seine Arbeit ist ein Versuch, Menschlichkeit zu schaffen. Das Buch sei seine Protestaktion gewesen. Als Therapeut sieht er sich nicht, „das sind die Frauen selbst. Schreiben ist therapeutisch“, sagt er.

Wally Lamb wird nicht mit allem fertig, was da auf ihn zukommt. Was manche Texte offenbaren, schockiert ihn. Er nimmt sich oft eine Schonfrist, ehe er sich zu Hause an die Arbeiten der Frauen setzt. „Wir haben viel gelacht und viel geweint in den Kursen“, sagt er, „und wenn man die Leute dazu bringt, ihre Gefühle herauszulassen, dann muss man ihre Gefühle auch aushalten.“ Das sind die Türen, die Wally Lamb hat öffnen können. Sehr gut möglich, dass die, die gelernt haben, ihre Geschichte aufzuschreiben, auch begreifen, wie weit die eigene Schuld reicht.

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