Reportage aus Äthiopien:Äcker, auf denen die Armut gedeiht

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Beim G-8-Gipfel in Schottland steht der Schuldenerlass für Entwicklungsländer im Mittelpunkt. Das Beispiel Äthiopien zeigt jedoch die Schwierigkeit der Entwicklungshilfe: Viele Milliarden Dollar sind schon in das geflossen - doch die Politiker dort sorgen dafür, dass die Menschen immer weniger haben.

Von Michael Bitala

Es war doch nur eine kleine Bemerkung, ein harmloser Satz. Was man denn in Addis Abeba so mache, wollte der Fahrer auf dem Weg zum Mercato wissen, dem riesigen Markt im Herzen der äthiopischen Hauptstadt. Aber die Antwort - Journalist, G-8-Gipfel, Schuldenerlass für Äthiopien, mehr Entwicklungshilfe - bringt ihn sichtlich aus der Fassung. "Äthiopien werden die Schulden erlassen? Unser Land soll noch mehr Hilfe bekommen? Das weiß hier kein Mensch." Dann schlägt er mit der flachen Hand gegen das Lenkrad und flucht über die "Verbrecher", "Lügner" und "Mörder". "Sehen Sie all die vielen Bettler zwischen den Autos, die Kinder, die Alten, die Kranken, die Krüppel, es werden jeden Tag mehr."

Arbeiterinnen in einer Kaffeefabrik in Addis Adeba (Foto: Foto: dpa)

Nein, Äthiopien fehle es nicht an ausländischer Hilfe, das einzige, was das Land brauche, sei eine neue Regierung, und zwar schnell. "Die haben schon so viele Milliarden bekommen, und was ist passiert? So arm wie heute waren wir noch nie!" Am Markt angekommen, hat der Fahrer noch eine Bitte: "Erwähnen Sie meinen Namen bloß nicht, die sperren gerade jeden ein, der ihnen nicht passt."

Dieser Wutanfall wäre wohl kaum erwähnenswert, würde es auf dem Mercato nicht zu einer ähnlichen Begegnung kommen. Ein "Fremdenführer", so nennt sich der 45-Jährige, drängt sich auf. Er will aber gar nicht, dass man Teppiche, Gewürze oder Antiquitäten bei seinen Freunden kauft, nein, er bringt einen geradewegs ins Zentrum des Marktes, dort tummeln sich Geschäftsleute, Schuhputzer, Bettler, Kunden und Kinder. "Hier wurden am 8. Juni unsere Leute ermordet, es gab 30 Tote. Die Soldaten schossen einfach in die Menge", sagt er. Man könne sich nicht vorstellen, wie groß die Wut der Menschen sei. "Wenn die Regierung nicht abtritt, kracht es gewaltig."

Angst vor dem Bürgerkrieg

Addis Abeba, das zeigt sich schnell, hat sich enorm verändert. Eine solche Wut, eine solche Angst hat es seit langem nicht gegeben. Politiker, Diplomaten, Entwicklungshelfer, jeder, mit dem man spricht, sagt, es handle sich um die schwerste Krise seit 1991, seitdem der ehemalige Rebellenführer und heutige Premierminister Meles Zenawi die Macht in Äthiopien übernommen hat.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handle sich bei dieser Krise um eine rein innenpolitische Angelegenheit: Am 15. Mai fanden Parlamentswahlen statt, und zum ersten Mal seit Meles' Machtübernahme vor 14 Jahren war die Abstimmung relativ frei und fair. Bis heute aber, fast zwei Monate später, gibt es noch kein offizielles Endergebnis. Das sehen viele als Beweis für die Niederlage der Regierungspartei Ethiopian People's Revolutionary Democratic Front an.

Allein in Addis Abeba gewann das Oppositionsbündnis "Coalition for Unity and Democracy" 85 Prozent der Stimmen. Doch als Meles' Partei Anfang Juni verkündete, sie liege landesweit in Führung, kam es tagelang zu Krawallen, zu den 30 Toten auf dem Mercato und mehr als 3000 Festnahmen. Seither warten alle auf den "D-Day", den "Declaration-Day", doch der wird immer wieder verschoben. Was bei der Verkündung passiert, weiß keiner, aber viele fürchten Unruhen, einen Putsch, sogar Bürgerkrieg.

Die äthiopische Krise aber hat nicht nur innenpolitische Gründe, sie ist auch eng mit den Finanzhilfen der Internationalen Gemeinschaft verbunden und so auch mit dem an diesem Mittwoch beginnenden G-8-Gipfel. In Schottland geht es um die Armutsbekämpfung in Afrika, um Schuldenerlass und die Verdoppelung der Entwicklungshilfe. Äthiopien steht weit oben auf der Liste, ist es doch seit 1984, seit der großen Hungersnot mit rund einer Million Toten, das Symbolland für afrikanische Armut.

Rund 4,4 Milliarden Dollar Schulden wurden dem Staat jetzt erlassen, teils - wie Anfang Juni - von den G 8, teils von Ländern, die bilaterale Kredite gegeben hatten. Das ist zwar für Äthiopien eine große Erleichterung, fallen so doch jährlich Tilgungen von rund 150 Millionen Dollar weg, viel wichtiger aber sind die internationalen Finanzhilfen. Mit einer Milliarde US-Dollar wird der Staatsetat pro Jahr unterstützt, das sind bei einem Gesamthaushalt von 2,5 Milliarden immerhin 40 Prozent. Länder wie Ruanda oder Uganda bekommen bis zu 70 Prozent.

All diese Hilfen aber gibt es nicht umsonst. Sie sind an Bedingungen geknüpft, an eine so genannte gute Regierungsführung, an Menschenrechte, Demokratie und Wirtschaftsreformen. Und das aus gutem Grund: Die Erfüllung dieser Forderungen, das zeigt allein das Beispiel Äthiopien, könnte Afrika viel mehr aus der Armut helfen als noch mehr Geld oder noch mehr Betroffenheitskonzerte.

Angesichts der politischen Krise ist es derzeit schwer, Gesprächspartner zu finden, die sich zitieren lassen: "Das ist viel zu heikel", sagen Oppositionelle, "die haben schon so viele von uns eingesperrt." Ausländische Entwicklungshelfer trauen sich auch nicht: "Die schmeißen uns raus." Und Regierungsmitglieder sind nicht einmal ans Telefon zu bekommen.

Internationaler Druck zeigt Wirkung

Trotzdem kann man viele Gespräche so zusammenfassen: Es lag am Druck der internationalen Gemeinschaft, dass es im Mai zu den ersten relativ freien Wahlen seit 1991 gekommen ist. Niemand aber habe mit solchen Gewinnen für die Opposition gerechnet, am wenigsten Meles, sonst hätte er die Abstimmung ja nicht zugelassen.

Nun seien alle geschockt, aber das Debakel der Herrschenden sei einfach zu erklären: Meles und sein Regierungszirkel investierten das meiste Geld in ihre Heimatregion im Norden; sie gängelten die Menschen, sie wollten mit einem anachronistischen Sozialismus alles und jeden kontrollieren, und sie betrachteten jeden als Feind, der nicht zur Regierungspartei stehe. Und das nähmen die ehemaligen Milizionäre rund um Meles oft wörtlich. Der Äthiopien-Bericht der Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch ist jedenfalls verheerend.

Aber es gibt noch einen anderen Grund für die Wut der Menschen, einen, der wohl viel wichtiger ist als alles andere. Und den kann am besten Dessalegn Rahmato erklären. Er ist Sozialwissenschaftler und gilt in Addis Abeba als unabhängiger und ziemlich mutiger Mensch. 60 Jahre ist er alt, und das Erste, was der hagere Mann in seinem kleinen Büro sagt, ist: "Die Äthiopier werden immer ärmer, trotz der vielen Hilfen, das macht die Menschen wirklich zornig." Heute liege das jährliche Pro-Kopf-Einkommen bei 104 Dollar, vor 30 Jahren waren es noch 110 Dollar. "Wir haben wirklich sehr, sehr viel Geld aus dem Ausland bekommen, aber gebracht hat es nichts."

Der Grund sei eine falsche Politik: Die Regierung glaube immer noch an die Kraft des Kleinbauern-Staates. Dabei, so Rahmato, "haben Kleinbauern noch nie für einen Wirtschaftsaufschwung gesorgt, das hat es in der Geschichte noch nie gegeben." Und genau das, so der Soziologe, ist das eigentliche Problem Äthiopiens: 85 Prozent aller Menschen leben von der Landwirtschaft, trotzdem reichen die Ernten selbst in guten Jahren nicht.

Mindestens fünf der 70 Millionen Einwohner brauchen Nahrungsmittelhilfe, in schlechten Jahren steigt die Zahl auf 10 bis 15 Millionen. "Wir müssen endlich die Ernten verbessern", sagt Rahmato, "sonst werden all die Hilfen immer wieder nur aufgefressen." Am wichtigsten aber sei es, in Infrastruktur, in die Industrie und in die Ausbildung zu investieren, "sonst gibt es keinen Aufschwung".

Fruchtbarer Boden, falsche Politik

Dabei könnten schon die Kleinbauern vieles verbessern - wenn man sie nur ließe. Äthiopien, das dreimal so groß ist wie die Bundesrepublik, hat soviel fruchtbares Land, dass es ohne Probleme das ganze Horn von Afrika versorgen könnte. Rund eine Autostunde von Addis Abeba entfernt liegt das Dorf Bolabota. Und gerade jetzt, zur Regenzeit, sind überall üppige Felder und Plantagen zu sehen, mit Weizen, Roggen, Hopfen, Papayas, Äpfel, Chili, Kaffee, Kohl, Mangos, Oliven und sogar Spargel und Erdbeeren.

Die Bäuerin Yemayenesh Ragasa steht jedenfalls recht zufrieden auf ihrem Acker. 40 Jahre ist die kleine Frau, ihre Hände sind voller Schwielen, dennoch lacht sie und zeigt stolz auf ihr Gemüse. "Wenn es so weitergeht, reicht die Ernte für das ganze Jahr", sagt sie. Zwei Hektar bewirtschaftet die Bäuerin, das ist weit mehr als andere Landwirte haben, aber weil sie sieben Kinder hat, weil sie ihr Feld bald zwischen ihren Söhnen und Töchtern aufteilen muss, wird die Anbaufläche dann nicht mehr ausreichen. Ein Hektar gilt als unterste Grenze für die Selbstversorgung - und zwar auch deshalb, weil fast alle Bauern mit einem Holzpflug arbeiten, dessen System älter ist als die Erfindung des Rades.

Teilen, bis nichts mehr da ist

So ist das fast im ganzen Land. Die Bevölkerung wächst mit drei Prozent pro Jahr so drastisch, dass sie sich in 20 Jahren auf 140 Millionen verdoppeln wird. Gleichzeitig werden die Ackerflächen immer kleiner, weil jede Familie den Boden aufteilen muss. "Das ist wie im Mittelalter in Europa", sagt Winfried Zarges von der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, GTZ, "durch die Landaufteilung können sich immer weniger selbst ernähren." Deshalb plädiert er - wie viele Entwicklungsexperten - für eine grundlegend andere Agrarpolitik, eine, die Privateigentum zulässt. In Äthiopien darf kein Bauer den Boden besitzen, den er bearbeitet. So können die Menschen jederzeit von ihren Äckern vertrieben werden - und sie investieren nichts.

Die Bäuerin Yemayenesh Ragasa wäre glücklich, wenn ihr das Land gehören würde: "Dann könnte ich ein Bewässerungssystem bauen und mir besseres Saatgut, Ochsen und einen besseren Pflug kaufen." Mit Grundbesitz sei sie kreditwürdig bei Banken, so aber, ohne Eigentum, bekomme sie nichts. "Ich habe doch kein Geld, wie soll ich denn sonst eine Bewässerungsanlage finanzieren?"

Regierungschef Meles aber hält landwirtschaftlichen Grundbesitz für Teufelszeug. Bei der ersten Dürre, bei der ersten Missernte, so argumentiert er, verkauften die Bauern ihren Grund und zögen in die Stadt, wo sie noch mehr verarmen, weil es dort keine Arbeit gibt. Das klingt zwar plausibel, GTZ-Mann Zarges aber hält dagegen, dass eine Landkonzentration dringend nötig wäre.

Größere Äcker = mehr Ernte

Nur größere Äcker und modernere Bewirtschaftung könnten gute Ernten bringen. "Es geht gar nicht anders. Ein Teil der Bauern muss in die Städte ziehen, um dort ein Einkommen zu finden." Die Frage, Grundbesitz ja oder nein, war jedenfalls ein Hauptthema im Wahlkampf, und so wie es aussieht, hat die Opposition mit dem Versprechen der Privatisierung auch massiv auf dem Land gewonnen.

Zurück nach Addis Abeba, ins staatlichen Hilton Hotel. Der Bar-Bereich ist einer der beliebten Treffpunkte der Stadt, dort versammeln sich jeden Abend Geschäftsleute, Diplomaten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Regierungsbeamte, Politiker. "Wir können uns gerne unterhalten", sagt ein Diplomat, "aber lassen Sie uns den Tisch wechseln, hier sind mir zu viele Spitzel." Dann erzählt der Mann, Premier Meles sei angeblich bereit, die Macht abzugeben, sollte seine Partei wirklich verloren haben, die Hardliner in seinem Kabinett aber weigerten sich.

"Das ist eine ziemlich gefährliche Situation." Und was macht die Weltgemeinschaft, wenn sich die Regierung mit Gewalt an der Macht hält? Wird sie über ihre Finanzhilfen Druck ausüben? "Dann wird man abwägen, was wichtiger ist", sagt der Gesandte: "Demokratie oder Treue." Äthiopien sei das stabilste Land am Horn von Afrika und Meles ein enger Verbündeter der USA und Europas. "Schauen Sie sich die Nachbarländer an", sagt er. "Somalia, ein Hort des islamischen Terrorismus, Sudan, ein Hort des Staatsterrorismus - so schnell wird Meles nicht fallengelassen."

© SZ vom 06.07.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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