Rechtsextremismus und Zivilcourage:"Schützen statt konfrontieren"

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Am Wochenende wurden in Magdeburg mehrere Afrikaner von Rechtsextremen attackiert, bei einem anderen Übergriff wurde eine schwangere Irakerin in einem Bus geschlagen. Der Sozialpsychologe Kai Jonas spricht über das Wegschauen.

Marten Rolff

SZ: Herr Jonas, gibt es in Deutschland eine Kultur des Wegschauens?

Jonas: Nein, eine Kultur des Wegschauens würde ja bedeuten, dass man das bewusst täte, und das möchte ich niemandem unterstellen. Ich würde eher sagen, dass es eine weit verbreitete Unfähigkeit hinzusehen gibt. Empirisch belegen lässt sich das natürlich nicht, mangelnde Zivilcourage ist ja nicht messbar.

SZ: Aber wieso sind wir unfähig hinzusehen, wo wir hinsehen müssten?

Jonas: Psychologen nennen diesen Mechanismus Einstellungs-Verhaltens-Diskrepanz. Menschen möchten vielleicht in einer Situation ein bestimmtes Verhalten zeigen, etwa Solidarität mit einem Opfer, doch die Handlung bleibt aus.

SZ: Woran liegt das?

Jonas: Das kann viele Gründe haben. Vor allem orientiert sich menschliches Verhalten in einer Situation immer an den Umstehenden. Wenn die nicht handeln, wird es für den Einzelnen schwer, aktiv zu werden oder ein Unrecht als solches zu erkennen. Und je mehr Leute anwesend sind, desto weniger fühlt sich der Einzelne verantwortlich. Es gibt mehr Faktoren, die uns daran hindern, Verantwortung zu übernehmen, als wir wahrhaben wollen. Vielen macht ja schon ihr Weltbild die Identifikation mit einem Opfer schwer. Es gibt da ja eine regelrechte und absolut absurde Opfer-Hierarchie.

SZ: Und wie sieht die aus?

Jonas: Kinder und Hunde etwa rangieren auf der Skala ganz oben, denen würde sofort jeder helfen. Als nächstes nennen Befragte in Zivilcourage-Seminaren immer Ausländer, das dürfte aber auch einem gewissen Pflichtbewusstsein geschuldet sein. Ganz unten in der Opfer-Hierarchie stehen üblicherweise Obdachlose, Behinderte, Jugendliche und Schwule. Da glauben leider viele: Die sind doch für ihr Schicksal selbst verantwortlich.

SZ: Angenommen, ich habe ein Unrecht erkannt und will etwas tun. Wie sieht eine ideale Intervention aus?

Jonas: Das hängt von der Situation ab. Allerdings gibt es für jedes Einschreiten eine sehr wichtige Faustregel: Immer opferorientiert und nie täterbezogen handeln. Also schützen statt konfrontieren.

SZ: Können Sie ein Beispiel nennen?

Jonas: Ein Beispiel ist der Fall im Einkaufszentrum von Mittweida, wo vor etwa zwei Wochen eine Gruppe rechter Jugendlicher einer 17-Jährigen ein Hakenkreuz in die Haut ritzte, weil diese versuchte, einen kleinen Jungen in Schutz zu nehmen. Leider hat sie die Täter konfrontiert und das auch noch alleine, was sehr gefährlich ist. Vor allem gegen eine Gruppe geht man, wenn überhaupt, nur mit Verbündeten vor. Denkbar im Fall des Mädchens wäre vielleicht eine so genannte paradoxe Intervention gewesen.

SZ: Eine Handlung, mit der niemand rechnet, eine Art Überraschungs-Coup?

Jonas: Ja, sie hätte den kleinen Jungen zum Beispiel anschreien können, etwa mit: "Mensch, ich such dich schon, Mama hat dir hundert Mal gesagt, du sollst hier nicht rumlungern!" Dann hätte sie ihn vielleicht aus der Gruppe ziehen und in einem Laden Schutz suchen können. Die Täter wären verwirrt gewesen und hätten sich nicht angegriffen gefühlt. Zugegeben: Das ist ein Idealszenario. Von einem unerfahrenen Menschen in Bedrängnis kann man soviel Strategiedenken nicht verlangen.

SZ: Sie entwickeln an der Universität Jena Zivilcouragetrainings. In wieweit ist Zivilcourage erlernbar?

Jonas: Natürlich ändert ein Teilnehmer nach einem zweitägigen Kurs nicht sein Weltbild, aber man darf nicht vergessen, dass Zivilcourage im Kleinen beginnt. Es mag banal klingen, aber manche Kurse starten mit der Anleitung, wie man unter Belastung die Polizei ruft. Es kann schon Zivilcourage sein, wenn jemand ein guter Zeuge ist. In den Trainings geht es viel um die Einschätzung von Bedrohung. Oft haben Teilnehmer schon Schwierigkeiten zu beurteilen, wo eine Grenzüberschreitung beginnt.

SZ: In die Medien gelangen ja vor allem die Fälle mangelnder Zivilcourage, die mit rechtsradikalen Übergriffen in Verbindung stehen.

Jonas: Das ist ein großes Problem, weil in diesen krassen Fällen ein Einschreiten ohnehin kaum noch möglich ist. Diese Fälle sorgen dann für ein stark verzerrtes Bild in der Öffentlichkeit. Die meisten Kursteilnehmer in Jena kommen, weil sie von rechtsextremen Übergriffen alarmiert sind. Im Seminar selbst landen sie dann bei naheliegenderen Themen wie Mobbing oder häusliche Gewalt.

SZ: Herr Jonas, gibt es bei der Zivilcourage ein Ost-West-Gefälle?

Jonas: Das würde ich für ein ärgerliches Vorurteil halten. Auch hier wird der Akzent falsch gesetzt. Nachweisbar ist nur ein Generationengefälle bei der Zivilcourage. Leute, die eingreifen, sind meistens jung. Es sind eher die Älteren und Saturierten, die sich wegducken.

Kai Jonas ist Sozialpsychologe an der Universität Jena.

© SZ vom 5.12.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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