Prozess um Massaker in Bosnien:Ein Fluss als Massengrab

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Mehrere tausend muslimische Zivilisten wurden im Frühjahr 1992 im bosnischen Višegrad misshandelt und ermordet. Von Mittwoch an stehen zwei der Verantwortlichen vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag.

Varinia Bernau

Der Fluss brachte das Grauen ans Licht: An einem Frühlingstag des Jahres 1992 entdecken Anwohner des bosnischen Dorfes Slap, unweit der Grenze zu Serbien, eine Leiche. Sie ziehen sie aus dem Wasser, beerdigen sie auf dem nahen Friedhof. Niemand weiß, wer der Tote ist. Niemand ahnt, dass die Fluten hundert weitere anspülen werden.

Der mutmaßliche serbische Kriegsverbrecher Milan Lukic bei seinem ersten Auftritt vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag am 24. Februar 2006. Lukic plädierte auf nicht schuldig. (Foto: Foto: AFP)

Zwischen April 1992 und Oktober 1994 wurden mehrere tausend muslimische Zivilisten in der Stadt Višegrad und der näheren Umgebung misshandelt und getötet. Višegrad gehört zur Republika Srpska am östlichen Rand von Bosnien-Herzegowina. Von Mittwoch an stehen zwei Männer, die bei den Massakern eine tragende Rolle gespielt haben sollen, vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag: Milan und Sredoje Lukic werden für die Ermordung von mehr als 140 bosnischen Muslimen verantwortlich gemacht.

Ihnen werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in 21 Punkten zur Last gelegt. Die Anklage wirft den beiden bosnischen Serben unter anderem Mord, Folter und Verfolgung muslimischer Zivilisten vor. Das UN-Tribunal hatte die mutmaßlichen Kriegsverbrecher bereits vor zehn Jahren angeklagt - gemeinsam mit dem ebenfalls an den Massakern beteiligten Mitar Vasiljevic. Er wurde im Februar 2004 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Milan und Sredoje Lukic waren zu der Zeit noch auf der Flucht.

Die Leichen, die sie aus dem Fluss ziehen, beerdigen die Bewohner von Slap heimlich. In den dunklen, stillen Nächten tragen etwa 50 Helfer aus der Gegend die Toten zu Grabe, um nicht ins Visier der serbischen Scharfschützen zu geraten. 180 Leichen werden so begraben. Spätere Untersuchungen ergeben, dass nur jede 20. Leiche aus dem Wasser geborgen wurde. Am schrecklichsten sei der Moment gewesen, erinnert sich ein älterer Mann, als ein 20-Jähriger seine tote Mutter in dem Fluss treiben sah.

Vom guten Nachbarn zum selbsternannten Rächer

Die tragische Geschichte des Massakers von Višegrad beginnt im April 1992. Zuvor kommt man gut miteinander aus in dem Gemeindebezirk, der damals etwa 21.000 Bewohner zählt - zwei Drittel Muslime, ein Drittel Serben. Die Gegend gerät zunächst unter Beschuss von Serben. Viele Muslime fliehen. Doch als die Jugoslawische Volksarmee die Stadt wenig später wieder einnimmt, beruhigt sich die Lage scheinbar. Einige tausend Muslime kehren zurück. Mitte Mai zieht das Armeekorps ab - und überlässt paramilitärischen Milizen, der örtlichen Polizei und serbischen Anwohnern das Feld. Die staatliche Ordnung bricht zusammen, radikale Nationalisten und skrupellose Kriminelle ergreifen die Macht.

Einer von ihnen ist Milan Lukic, damals 24 Jahre alt und ohne festen Beruf: Aus der Zeit vor dem Krieg ist der Serbe vielen als guter Nachbar in Erinnerung, der ab und an mit seinen muslimischen Freunden in die Moschee geht. Doch mit Kriegsbeginn nennt er sich einen "Rächer" und avanciert zum örtlichen Anführer der "Weißen Adler". Auch sein 31-jähriger Cousin Sredoje, ein Polizist, schließt sich der Freischärlergruppe an.

Lesen Sie auf Seite zwei, wie die Anklage die Verbrechen der Lukics schildert.

An jener Stelle, an der sich die Stadt Višegrad in das grüne Tal schmiegt, spannt sich eine Brücke aus Bimsstein über den Fluss. Sie hat den Schriftsteller Ivo Andric zu seinem mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Roman "Die Brücke über die Drina" inspiriert. Im Buch ist das Bauwerk aus dem 16. Jahrhundert stummer Zeuge der wechselvollen bosnischen Geschichte. Fast fünfzig Jahre nach Entstehung des Romans wird sie zudem Zeuge eines der größten Massaker des Bosnienkrieges.

Milan Lukic im Mai 1992 in der Uniform des Militärs der bosnischen Serben in Višegrad, dem Ort an dem die Verbrechen begangen wurden, für die er angeklagt ist. (Foto: Foto: dpa)

Milan und Sredoje Lukic machen den Fluss zu einem Massengrab. Wahllos treiben sie nichtserbische Männer und Frauen auf den Straßen, in Fabriken und Häusern zusammen und schlachten sie an den Ufern ab. Manche von ihnen werden lebendig von der Brücke gestoßen und, während sie in die Fluten fallen, erschossen. Frauen werden vergewaltigt, Männer zur Zwangsarbeit in Barracken gehalten. In der Stadt wird geplündert, die beiden Moscheen werden zerstört.

Im Juni 1992, so schreibt die Anklage, führen Milan und Sredoje Lukic sowie Mitar Vasiljevic etwa 65 muslimische Frauen, Kinder und alte Männer zu einem Haus in der Pionierstraße. Bevor sie eintreten, werden sie gezwungen, Geld und Schmuck abzugeben und sich auszuziehen. Dann wird die Tür hinter ihnen verschlosen. Nur einen Spalt breit öffnet Milan Lukic noch einmal die Tür, gerade so weit, dass er einen Brandsatz auf den Boden legen kann.

Flucht nach Argentinien

Innerhalb kürzester Zeit steht das Haus in Flammen. Diejenigen, die versuchen, aus dem Fenster zu springen, nehmen die Lukic-Vettern mit ihren Schusswaffen ins Visier. Vasiljevic richtet Scheinwerfer auf die Opfer. Schreie und Winseln sind noch etwa zwei Stunden nach der Brandlegung zu hören. Sechs Menschen überleben die Tortur. Einige Tage später wiederholen die drei Serben das Verbrechen nach demselben Muster in dem nahen Dorf Zupa. Dabei führen sie etwa siebzig Menschen in die Flammen, einer überlebt.

Milan Lukic war im August 2005 in Argentinien festgenommen worden, nachdem er offenbar mit einem gefälschten Pass der Republik Serbien und Montenegro eingereist war. Sein Cousin hatte sich einen Monat später den Behörden der bosnischen Serbenrepublik gestellt, nachdem er zuvor mehrere Jahre lang untergetaucht war. Beide Angeklagten haben stets ihre Unschuld beteuert. Ein Gericht in Belgrad verurteilte Milan Lukic bereits 2003 wegen Kriegsverbrechen, Entführung, Folter und Mord in Abwesenheit zu 20 Jahren Haft. Damals ging es um die Entführung und Ermordung von 16 Muslimen im Oktober 1992 im serbischen Sjeverin.

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