Protestaktion:Im Laufschritt durch die Station

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Dienst, Bereitschaft, Bürokratie, Verwaltung, Forschung und Lehre - für die Patienten bleibt nur sehr wenig Zeit.

Nina Bovensiepen

Christoph 31 ist seit Sonnenaufgang im Einsatz. Zwei Mal ist der Hubschrauber der Berliner Charité an diesem Vormittag schon aufgestiegen und hat Notfallpatienten in das größte Klinikum Europas geflogen. Es ist ein ganz normaler Montag für das Hubschrauberteam am Klinikum Benjamin Franklin im Berliner Bezirk Steglitz, das zum Gesamtkomplex der Charité gehört. Ganz anders in der Luisenstraße im Zentrum der Hauptstadt: Für viele Patienten und Ärzte herrscht hier heute und in den nächsten Tagen Ausnahmezustand. Denn die Ärzte streiken.

Fünf Tage lang dauert die Protestaktion der Ärzte an der Charité (Foto: Foto: AP)

Anstatt zu untersuchen, zu operieren und Visiten zu machen, stehen die Mediziner mit weißen Kitteln unter dicken Winterjacken vor den Pforten des Krankenhauses und halten Protestplakate in die Winterluft. "Nachts machen wir es umsonst" steht darauf, oder "Die Ulla in Berlin kriegt keine Medizin". "Visit us in London", hat Andrea Antolic auf ihr Plakat geschrieben.

"Sogar in Portugal oder Griechenland verdient ein Arzt mehr als in Deutschland", sagt sie. Andrea Antolic ist 40 Jahre alt, seit zehn Jahren arbeitet die Gynäkologin an der Charité, 40 Stunden die Woche. Sie verdient im Monat 1800 Euro netto. "Ich liebe meine Arbeit, aber wenn es nur um das Finanzielle ginge, wäre ich schon lange weg", sagt sie.

Doch statt wegzugehen, kämpft sie mit ihren Kollegen für bessere Bezahlung, für einen Tarifvertrag und gegen den Abbau von Medizinerstellen. 2300 Ärzte arbeiten an der Charité - und bis auf die Beamten unter ihnen, die etwa 20 Prozent der Belegschaft ausmachen und die nicht streiken dürfen, beteiligen sich die meisten an der fünftägigen Protestaktion.

45 Euro für 16 Stunden Bereitschaft

Nicht-dringende Operationen, etwa der Austausch von Hüftgelenken, finden diese Woche nicht statt; in Operationssälen und Patientenzimmern schiebt eine Notbesetzung Dienst. Die Mediziner machen unterdessen auf ihre Nöte aufmerksam. Zum Beispiel mit dem "großen Charité-Quiz", das sie Patienten, Journalisten und Passanten in die Hand drücken. Wie viel Geld bekommt ein Assistenzarzt der Chirurgie für einen 16-stündigen Bereitschaftsdienst, in dem er fünf Operationen macht? 45, 150, 300 oder 600 Euro? 45 Euro netto ist richtig.

Ein schlechtes Gewissen hat Andrea Antolic nicht, dass sie heute im Schneeregen protestiert, statt Patienten zu pflegen. "Die bekommen doch auch mit, dass wir nur noch im Laufschritt über die Stationen hechten und drei Dinge gleichzeitig machen", sagt sie. 70 Prozent seiner Arbeitszeit verbringt ein Arzt im Klinikum laut Charité-Quiz mit Verwaltung und Bürokratie. "Forschung und Lehre machen wir längst in unserer Freizeit", erzählt Antolic.

Das spüren auch die Studenten an der Charité - die deshalb viel Verständnis für den Ärztestreik haben. "Die Dozenten sind oft müde und unvorbereitet", sagt Wolf Blaum. Der 27-Jährige schließt seine Ausbildung gerade ab. Seine Zukunftsaussichten findet er alles andere als rosig. Nach acht Jahren Studium und Promotion bekomme er nun wahrscheinlich einen Drei-Monats-Vertrag mit einem Netto-Lohn von 1200 Euro. "Für das Gehalt geht kein Maurer aufs Gerüst", meint er.

Doch nicht nur der eigene Nachwuchs, auch viele Patienten der Charité verstehen den Ärger der Mediziner. "Wenn Sie schon einmal nachts in der Notaufnahme waren, würden Sie sich auch wünschen, dass die Ärzte weniger arbeiten", sagt ein junger Vater, der mit Frau und Säugling in einem Wartesaal der Klinik sitzt.

"Ich möchte nicht von jemandem operiert werden, der schon 36 Stunden im Einsatz ist", meint er. So sehen es auch die vier jungen Mütter, die darauf warten, dass ihre Rückbildungsgymnastik beginnt. Der Kurs findet pünktlich statt - dazu werden schließlich auch keine Ärzte, sondern Hebammen benötigt. Und für die ist heute ein ganz normaler Montag.

© SZ vom 29.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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