Protest in Deutschland:Lob der Unruhe

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Unruhe hat einen schlechten Ruf in Deutschland. Zu Unrecht, denn Unruhestifter haben dieses Land verbessert, ihr Unruhegeist ist ein demokratisches Elixier.

Heribert Prantl

In den zornigen Jahren des 19. Jahrhunderts entdeckten die Deutschen die Straße als den Ort des Protestes. Erbitterung und Empörung über Behörden, Majestäten und Fabrikherren machten sich Luft in Protestmärschen, Demonstrationen und Manifestationen. Die Hungrigen wogen in den Bäckereien das Brot nach; war es in Ordnung, zog man weiter, war es zu leicht, wurde es genommen und verteilt. In Hunderten Volksversammlungen wurde über Gott und die Welt, den Straßenbau, die Industrieverschmutzung und über das allgemeine Wahlrecht gestritten; die Arbeiter forderten kürzere Arbeitszeit und "anständige Behandlung". Zusammen mit Dienstboten und Handwerksgesellen kämpften sie um ihre gesellschaftliche Anerkennung.

Am 23. Oktober 1989 demonstrieren tausende Bürger in Leipzig friedlich für Veränderungen. Gut zwei Wochen später kamen die Veränderungen. (Foto: Foto: dpa)

Diese Proteste waren eine politische Volks-Schule, man lernte zusammen mit den Studierten das Abc der demokratischen Rituale. Die Vertreter der herrschenden konservativen Mächte wurden unruhig und schürten deshalb die Angst vor dem, was sie Umtriebe nannten. In den Fliegenden Blättern erschien damals, es war 1848, eine Zeichnung, die den Erfolg der staatlichen Angstkampagnen illustriert.

Eine Bauersfrau fragt auf diesem frühen Comic ihren heimkehrenden Mann: "Kommst du aus der Volksversammlung?" - "Jawohl, Alte!" - "Na was habt ihr denn ausgemacht? Ist jetzt Freiheit - oder ist noch Ordnung?" Der Ethnologe Wolfgang Kaschuba spricht von den "konservativ geschürten Revolutionsängsten", die da zum Ausdruck kommen.

Es war eine unruhige Zeit damals. Die Unruhe zeigt sich in der auf dieser Seite abgebildeten Fahne der "Freiwilligen Compagnie Reutlingen"; in der Aufregung von 1849 kam selbst die Farbenfolge durcheinander: Der Staat hatte brutal ablehnend auf die friedliche Revolution von 1848 reagiert. Nach der brüsken Zurückweisung der demokratischen Reichsverfassung durch Preußen versuchten auch die süddeutschen Volksvereine und demokratischen Zirkel, den

Ist jetzt Freiheit - oder ist noch Ordnung?

Monarchien die Republik abzutrotzen. Am 5.Mai 1849 gründete sich das Freikorps, die "Reutlinger Compagnie", für die sich sofort zweihundert einfache Handwerksgesellen, Arbeiter und Weingärtner meldeten. Der Reutlinger Courier von 1849 beschreibt, wie "Jungfrauen" die Fahne übergeben: "Jünglinge! Bleibet einander treu im Kampfe für Freiheit und Gerechtigkeit. Unsere Liebe gebe Euch Muth zur Ausdauer, dann ist der Sieg Euer Lohn." Gesiegt haben die Jünglinge nicht. Der Staat zog die Zügel scharf an, die gescheiterten Demokraten zogen sich ins Biedermeier zurück. Nach Auflösung der Kompanie wurde die Fahne von der Bürgerwehr in Verwahrung genommen, später ging sie in den Besitz des Reutlinger Turnvereins über.

Ist jetzt Freiheit - oder ist noch Ordnung? Dieser fragende Satz aus den Fliegenden Blättern von 1848 ist ein deutscher Schlüsselsatz, er erklärt den deutschen Anti-Chaos-Reflex. Freiheit galt hierzulande lange nicht als Inhalt und Teil der Ordnung, sondern als ein Synonym für Unruhe und Chaos. Ordnung ist gut, Freiheit ist schlecht. Das klingt noch heute in den politischen Debatten durch, mit denen neue Sicherheitsgesetze begründet werden; die Beschränkung der Freiheitsrechte soll mehr Sicherheit bringen. Ruhe ist erste Bürgerpflicht, Unruhe eine Pflichtverletzung. Das wurzelt tief im kollektiven Hintergrundbewusstsein.

Unruhe hat einen denkbar schlechten Ruf in Deutschland. Wenn jemand "Unruhen" heute auch nur befürchtet (wie dies jüngst der DGB-Chef Sommer und die SPD-Präsidentschaftskandidatin Schwan im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise getan haben), dann gilt er als eine Art Brandstifter und Aufhetzer. Die bloße Beschreibung eines womöglich prekären Zustands wird als gefährlich apostrophiert - das Establishment der Berliner Politik reagiert wie Palmström in den Galgenliedern von Christian Morgenstern: Palmström, vom Auto überfahren, kommt zu dem Ergebnis, dass er den Unfall nur geträumt haben könne - "weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf".

Vielleicht hätten Sommer, Schwan und Co. nicht von "Unruhen", sondern von "Unruhe" reden sollen. "Unruhen" werden hierzulande nicht einfach als Summierung von Besorgnis und Zorn wahrgenommen, sondern mit Gewalttätigkeit gleichgesetzt. Öffentliche Unruhe bedeutet aber automatisch nicht brennende Autos und Boss-Napping. Unruhe ist etwas anderes als Randale. Unruhe ist nicht der Polit-Hooliganismus einer 1.-Mai-Nacht. Es gibt sozialverträgliche, voranbringende Formen der Unruhe - sie tragen die innere Unruhe über gesellschaftliche Missstände protestierend auf die Straße.

Erinnerungslücken

Die gewalttätigsten Zeiten waren in Deutschland diejenigen, in denen keinerlei Unruhe geduldet wurde. Unruhe ist ein innerer Vorgang, und wenn sich diese Unruhe im öffentlichen Protest Luft macht, ist das nicht schlecht, sondern gut. Öffentliche Unruhe ist nicht per se gewalttätig, wie es die Autoritäten glauben machen wollen. Das war 1832 nicht so, als die unruhigen Bürger aufs Hambacher Schloss zogen. Das war 1848 nicht so, als die wildesten Aktionen nicht etwa die Erstürmung von Rathäusern und Fabriken waren, sondern die Veranstaltung von Katzenmusiken vor den Häusern von Politikern und Fabrikherren. Das war auch 1989 nicht so, als die Bürgerinnen und Bürger der DDR sich ihre Freiheit erkämpften und das verwirklichten, was schon die Revolutionäre von 1848 gewollt hatten: Einheit in Freiheit.

Warum hat die Erinnerung an die Zeiten produktiver Unruhe, warum hat die Erinnerung an eine erfolgreiche Revolution in Deutschland keine Basis? Im Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte kommt hierzulande der Erinnerung an das sogenannte Dritte Reich, an die extremste und brutalste Form der deutschen Auflehnung gegen die Demokratie, eine ähnliche Bedeutung zu wie bei anderen Nationen die Erinnerung an eine erfolgreiche Revolution - so meint der Historiker Heinrich August Winkler. Die Erinnerung an die Nazi-Herrschaft ist eine bedrückende, gewaltige Erinnerung, die zwar, verbunden mit einem "Nie wieder!", die Demokratie festigt, aber offenbar die anderen Erinnerungen verdrängt - die Erinnerungen an die Zeiten der produktiven Unruhe, in denen die Demokratie geschaffen und die Grundrechte gestärkt worden sind.

Unruhige Zeiten sind diejenigen, in denen sich die Bürger nicht ruhig, ordentlich und brav verhalten, in denen sie nicht "Dienst ist Dienst" und "Befehl ist Befehl" sagen und sich nicht unbedingt darauf verlassen, dass die Zuständigen schon alles richtig machen. Solche unruhigen Zeiten waren nicht die schlechtesten in der deutschen Geschichte. 1848, als die Bürger auf die Barrikaden gingen, formulierten sie in der Frankfurter Paulskirche ihre demokratischen Rechte: Sie verankerten die Rechts- und Chancengleichheit aller Staatsbürger, beseitigten die Vorrechte des Adels, garantierten die Meinungs-, Glaubens-, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Die neuen Grundrechte galten zwar nicht lange, sie wurden von der Reaktion wieder ausradiert; aber sie blieben Idee, und sie wurden 1949 Grundgesetz. Gut 140 Jahre nach 1848 gingen die Menschen in Ostdeutschland wieder zu Hunderttausenden auf die Straße - und erkämpften die deutsche Einheit.

Die Fahne der "Freiwilligen Compagnie Reutlingen". (Foto: Foto: Heimatmuseumm Reutlingen)

Die Zeiten widerständiger Unruhe waren kurz in der deutschen Geschichte. Deutschland hat Unruhe nie lang ausgehalten: Der Zug der zornigen Bürger aufs Hambacher Schloss, der Widerstand gegen die Bismarck'schen Sozialistengesetze, der Sturz der Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg und die Errichtung der ersten deutschen Demokratie - in Frankreich würden Festtage daran erinnern.

Vorform des Landfriedensbruchs

In Deutschland hat das alles kaum Platz im öffentlichen Bewusstsein. Es ist so, als ob man sich hierzulande für die Tage der Fundamentalpolitisierung der Bevölkerung schämt. Unruhe feiert man nicht; der deutsche Michel geniert sich lieber. Diese Haltung hat Einfluss auf die Betrachtung auch der bundesrepublikanischen Unruhezeiten. Das gilt für die antiautoritäre Bewegung von 1968, die, was die Verfechter ihrer Anliegen betrifft, eine Studentenbewegung blieb. Das gilt für die Bewertung der Proteste gegen Wiederbewaffnung, Notstandsverfassung und Nachrüstung - sie werden weniger als Aktionen empfunden, bei denen die Demonstranten ihre Grundrechte entdeckten und ihre politischen Hoffnungen auf das Grundgesetz richteten, sondern vor allem als Störung des ordentlichen politischen Betriebs und Vorform des Landfriedensbruchs bewertet.

Unruhestiftung oder lebendig-ungebärdige Demokratie? Die Proteste gegen Wyhl, Wackersdorf und Gorleben waren und sind Exempel des Bürgermuts und der Zivilcourage. Die Kirchenasylbewegung war und ist so etwas wie ein Exekutivorgan des Artikels 1 Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und wer hat den politischen Repräsentanten in Deutschland ökologische Verantwortung beigebracht? Es waren Unruhestifter. Unruhestifter sind Leute, die nicht akzeptieren wollen, dass man in Ruhe einfach so weitermacht wie bisher. Unruhegeist ist ein demokratisches Elixier. Er ist der Spirit einer Zivilgesellschaft - die nun einmal nicht nur Anreger, sondern auch Aufreger braucht.

Unruhestifter brauchen langen Atem. Wer hätte geglaubt, dass die Sitzblockierer von Mutlangen eines Tages von allerhöchster Rechtsstelle, vom Bundesverfassungsgericht nämlich, rehabilitiert werden würden? Am Schießplatz von Mutlangen auf der Ostalb deponierten die US-Amerikaner in den achtziger Jahren ihre Pershing-Atombomben. Diese US-Basis wurde deshalb damals zum Zentrum des Widerstands gegen atomare Nachrüstung. Noch bevor die Raketen kamen, gab es in Mutlangen eine Prominenten-Blockade. Mit seiner Teilnahme wolle er zum Ausdruck bringen, so sagte es Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll am 1.September 1983, "dass die Nachrüstung Wahnsinn ist, einfach Wahnsinn". Später zogen Scharen Namenloser auf die Alb und stoppten Konvois, oft bloß für Minuten. In den Augen der Amtsrichter von Schwäbisch Gmünd war das verwerfliche Nötigung.

Der Staat hatte geirrt

Die Maschinerie von Staatsanwaltschaft und Gericht lief unbeirrt, die Justiz vollstreckte unerbittlich. Sie bestrafte prominente und einfache Bürger, zwölf Jahre lang. Wer seine Geldstrafe nicht bezahlte, weil er glaubte, dass ein Protest gegen Nachrüstung richtig und zur Friedenssicherung wichtig war, der musste hinter Gitter. Zwar hatte sich die Welt verändert seit den erbitterten Debatten darüber, ob jemand, der eine halbe Stunde vor dem Tor eines Raketenlagers sitzt, wirklich ein Gewalttäter ist. Zwar waren die Waffen, gegen die sich der Protest gerichtet hatte, längst abgezogen und die Pershings verschrottet; aber die Justiz strafte immer noch, und die Strafen mussten immer noch abgesessen werden. Dann veröffentlichte aber am 15. März 1995 das Bundesverfassungsgericht seine spektakulären Beschlüsse mit dem Tenor: Sitzblockaden sind keine Gewalt; die Richter erklärten, dass Sitzblockaden nicht als Nötigung bestraft werden können. Der Staat hatte also geirrt, als er verurteilt hatte. Die Friedensdemonstranten hatten diesen Irrtum um ihrer Unruhe willen erduldet und ertragen. In diesem Erdulden lag Kraft. Der 15. März 1995 ist ein Feiertag für Unruhestifter.

"Die Gedanken sind frei"

Nach dem Ende dessen, was Neoliberalismus genannt wurde, geht es gegenwärtig darum, die Finanzwirtschaft neu zu ordnen und zu regeln, wirtschaftliche und soziale Positionen neu zu justieren und auszuhandeln. Sollen die Leute dabei einfach ganz ruhig bleiben? Sollen sie ruhig sein, wenn der Staat mit Hunderten Milliarden Steuergeld für eine verantwortungslose Finanzwirtschaft einstehen muss? Sollen sie dankbar sein für die Sozialisierung der Verluste der Banken? Die Menschen fühlen die Stühle wackeln, auf denen sie sitzen, selbst wenn die noch gar nicht wackeln. Sie bangen um ihren Arbeitsplatz, sehen existentielle Bedrohungen auf sich zukommen. Wenn solche Unruhe nicht artikuliert wird, geht der wirtschaftlichen Depression die psychische voraus.

Sollen die Menschen sich bescheiden mit dem Lied "Die Gedanken sind frei", zweite Strophe: "Ich denke, was ich will und was mich beglücket, doch alles in der Still' und wie es sich schicket"?

Lebendige Demokratie kann schon ein bisschen mehr vertragen.

© SZ vom 02.05.2009/woja - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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