Presseschau:Der lange Abschied von der Freiheit

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(Foto: N/A)

Nach der Verhaftung des Chefredakteurs der angehenden Oppositionszeitung Cumhuriyet herrscht in den kritischen Medien der Türkei Verzweiflung. Die Autokratie im Land ist stärker denn je.

Von Mike Szymanski

Nuray Mert, Kolumnistin der Hürriyet Daily News hat kürzlich darüber geschrieben, wie sie mit sich kämpft, in ihrem Land, der Türkei, noch Nachrichten zu schauen. Es war Mitternacht. Sie machte den Fernseher trotzdem an. Es ging mal wieder um Politik, es ging mal wieder um Leben und Tod. In der Schwarzmeerstadt Trabzon hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan über Märtyrertum gesprochen, darüber, sich für das Land zu opfern, "zu sterben wie ein Mann". Nach dieser Rede war der Tod immer noch Thema. Jetzt waren es seine Zuhörer, sie verlangten in Sprechchören die Wiedereinführung der Todesstrafe. Seit dem Putschversuch vom 15. Juli sinnen so erschreckend viele auf Rache für die Opfer dieser Nacht.

Nuray Mert schreibt, ein Gefühl von Angst sei in ihr aufgekommen. Aber das war es nicht allein. "Am Ende fühlte ich mich hoffnungslos." Seit Tagen sind die Kommentarspalten der Zeitung mit Untergangsstimmung gefüllt. Die Journalistin arbeitet in ihrem Stück erschreckend präzise heraus, wie in dieser "Sei-bereit-für dein-Land-zu-sterben"-Rhetorik der Kampf für die Demokratie nachrangig zu werden scheint. Es gebe erste Opfer zu beklagen: die Hoffnung.

Ihr Kollege Ahmet Hakan beschreibt, wie sich Erdoğan und seine islamisch-konservative Regierung mittlerweile von Feinden umstellt fühlen und wozu das geführt hat: "Es wird einfach nur noch Macht ausgeübt." Kein Plan, keine Strategie. "Das ist der Grund, warum ich das Gefühl habe, wir sitzen in einem Laster, der mit Vollgas unterwegs ist, und die Bremsen sind ausgefallen." Geht es noch düsterer? Ja: Barçın Yinanç, ebenfalls von der Hürriyet Daily News, sieht ihr Land schon im "freien Fall in den Abgrund stürzen".

Die Verzweiflung ist nachvollziehbar: Die ohnehin schon miserable Lage für türkische Journalisten hat sich in den vergangenen Wochen noch einmal deutlich verschlechtert. Mit der Verhaftung des Chefredakteurs der Cumhuriyet, Murat Sabuncu, und etlichen weiteren angesehenen Redakteuren der regierungskritischen Zeitung hat die Repressionswelle auch jenes kritische Blatt mit voller Wucht erwischt, das die Regierungspartei gerne mal als Beleg für die angeblich noch existierende Pressefreiheit im Land angeführt hatte. So kommt es, dass in diesen Tagen auch die Stimme von Kadri Gürsel fehlt, einem der Veteranen unter den Kolumnisten. Auch er ist am 31. Oktober festgenommen worden, unter Terrorverdacht. Im Oktober hatte er der Führung in Ankara vorgeworfen, die Probleme des Landes nicht zu lösen, sondern sie zu verschärfen. Die Regierung unter Erdoğan habe den Putschversuch vom 15. Juli dafür genutzt, um seine Macht weiter zu konsolidieren. Erdoğan ist jetzt auf dem Weg, sich mit der Einführung des Präsidialsystems auch formal zu der Macht zu verhelfen, die er jetzt schon ausübt. "De facto-Zustand" nennt die Regierung den Umstand, dass Erdoğan als Präsident mächtiger ist, als es ihm die Verfassung erlaubt. Kadri Gürsel glaubt nicht an ein Problem der Verfassung. Wie die Lage aus seiner Sicht ist? "Katastrophal". Die Türkei erlebe den Putsch nach dem gescheiterten Militärputsch. Jeden Tag entferne sich sein Land "etwas mehr von Recht und Demokratie". Er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben. "Aber es kann nicht ewig so weitergehen." Nun sitzt er in Haft.

Es gehe jetzt in der Türkei um "Alles oder nichts", das schreibt Veysi Sarısözen in der noch neuen kurdischen Zeitung Özgürlükçü Demokrasi. Die etablierten kurdischen Titel und Sender hat die Regierung längst dichtgemacht. Das große Thema ist die Verhaftung der Chefs der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP und zahlreicher Abgeordneter. "Ein Verbrechen", schreibt der Autor. Dem kurdischen Volk werde bedeutet, es habe kein Recht, an der Politik im Parlament mitzuwirken. Erdoğan wolle sein Ein-Mann-Regime durchsetzen und bekämpfe all jene, die ihm noch im Weg stünden.

Levent Gültekin geht in seinem Kommentar für die Internetzeitung Diken der Frage nach, ob die Bürger gerade die Geburtswehen einer neuen Türkei erlebten oder ein Land im Todeskampf. Er glaubt, dass Letzteres zutrifft. Er glaubt nicht daran, dass sein Land gestärkt aus der Krise hervorgehen könne, wie man in der Regierung meint. "Die Menschen lassen sich vielleicht eine Weile lang einschüchtern. Aber sie ergeben sich nicht. Sie verlieren nur die Bindung zu ihrem Land." Metin Münir, Kolumnist für die Internetplattform T24, schreibt, dass die Türkei auch vor Erdoğan ein autokratisches Land gewesen sei. Aber Erdoğan sei so mächtig geworden, dass nur noch er selbst sich im Weg stehe.

© SZ vom 12.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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