Meine Presseschau:Das Phantom

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(Foto: N/A)

Der neue Kanzler in Österreich scheint gefunden zu sein. Nun fragen sich Österreichs Zeitungen nicht nur, was er für ein Typ ist - sondern auch was all das für ihr Land bedeutet.

Von Cathrin Kahlweit

Die Hauptnachricht der Woche ist natürlich eindeutig: Der alte Kanzler in Wien hat hingeschmissen, der neue wurde in Windeseile gefunden - und nun soll er endlich aus dem Aggregatzustand eines Phantoms in den eines lebenden Menschen hinüberwechseln, der sagt, was er will, und zeigt, was er ist. Denn bislang erzählen sich alle Menschen Wunderdinge über Christian Kern, doch der hat bis zu seiner offiziellen Nominierung nur hinter den Kulissen agiert. Und das offenbar mehr als effizient. Der unterlegene Kandidat für das Amt des SPÖ-Parteichefs und Kanzlers jedenfalls, Gerhard Zeiler, hat im ORF offenherzig erzählt, Kern und er hätten schon monatelang miteinander darüber gesprochen, dass Werner Faymann abgelöst gehöre. Zunehmend wird also jetzt deutlich, dass hinter der Zurückhaltung ein Masterplan stand. Und der weckt einige Neugier.

Offenbar hat der bisherige ÖBB-Chef die Gremien geschickt hinter sich gebracht, weshalb ein ORF-Kommentator sagt: "Kern kann Konsens." Aber nun wird er ans Licht treten müssen und zeigen, ob er nicht nur Manager, sondern auch Politiker ist. Die Presse bedauert den neuen Mann schon mal: "Einige Monate wird die berechenbare Euphorie und Hysterie der Massenmedien über den smarten Kanzler andauern. Nur so lange hat er Zeit, ein paar echte Veränderungen und Neuaufstellungen vorzunehmen. Es wird mühselig. Es wird hart. Es ist kaum zu bewältigen. Willkommen, Christian Kern."

Während sich der Wirbel um den schnellen Abschied Faymanns, die rasante Kandidatensuche und die Kabinettsumbildung langsam legt, beginnen einige Medien derweil, grundlegendere Fragen zu stellen. Armin Thurnher zum Beispiel, Herausgeber des Falter, findet es schade, dass die Sozialdemokratie nicht aus den sich seit dreißig Jahren verschärfenden gesellschaftspolitischen Bedingungen Kapital schlagen kann, dass sie ihre kulturelle Hegemonie verliert und den Rechten nichts entgegenzusetzen hat. Wann, fragt Thurnher, "hat die Partei verlernt, offen zu sprechen?" Und "was ist das überhaupt für ein Land, in dem ein Präsidentschaftskandidat der FPÖ ernsthaft mit 50 Prozent der Stimmen rechnen darf? Sind alle meschugge geworden?"

Profil zeichnet "das ernüchternde Bild der ehemals stolzen SPÖ, die emotional und intellektuell ausgedünnt wurde und den "Herausforderungen der Gegenwart mit Ratlosigkeit und Spaltungstendenzen begegnete". Der Standard wünscht sich, dass jetzt endlich das kleinkarierte Hickhack in der Koalition endet und das, was wirtschaftlich sinnvoll ist, nicht mehr aus purem Eigennutz blockiert wird. "Das wird auch das Feld sein, in dem der neue Kanzler-Manager Christian Kern am ehesten ansetzen wird müssen und können: beim Verbessern des unternehmerischen Klimas. Kern, der sich ja mit PR sehr, sehr gut auskennt, wird zunächst einmal hier Leadership zeigen müssen."

Die Boulevardzeitungen indessen, die von Faymann mit Geld und Meinung gefüttert wurden, fürchten einen Verlust an Einfluss, einen Linksruck und vor allem eine neue Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik. Österreich etwa, Faymanns Leib- und Magen-Blatt, titelt an dem Tag, an dem Christian Kern die Top-Nachricht ist: "Gewalt explodiert" und stellt damit im Aufmacher, wie auch die Krone und Heute zuletzt praktisch jeden Tag, die Zahl der Flüchtlinge im Land in den direkten Kontext zu brutalen Straftaten. Dazu noch einmal Armin Thurnher im Falter: "Boulevardpolitik - die Kunst, den Massen nicht die Wahrheit zu sagen, sondern sie zum Richtigen zu verführen, - trägt zum Verfall der Sozialdemokratie bei."

© SZ vom 14.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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