Politische Teilhabe:Löcher fürs Kreuzchen

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1,2 Millionen Menschen in Deutschland sind blind oder sehbehindert. Damit sie ihre Wahlzettel selbständig ausfüllen können, gibt es Schablonen. Doch barrierefreie Parteiprogramme sind oft Mangelware.

Von Sophie Burfeind, Berlin

Manfred Scharbach sitzt vor seinem Computer ohne Bildschirm und surft im Internet. Es sind bald Wahlen in Berlin, er will den Wahl-O-Mat nutzen, kann ja nicht schaden. Eine Lautsprecherstimme liest ihm vor, was sich auf der Seite befindet, Startseite, Internationales, Politik, Berlin, dann sagt sie: "Um den Wahl-O-Mat zu starten, klicken Sie auf das Bild." Scharbach lacht. Klicken Sie auf das Bild. Da fängt es schon an.

Es ist Sommer in Berlin und Wahlkampf, in der ganzen Stadt hängen Plakate. Mal ist ein entschlossen in die Ferne blickender Mann im Pop-Art-Stil (FDP) abgebildet, mal ein liebevoller Vater, der seine Tochter auf der Schulter trägt (CDU) oder die Mietrebellin Oma Anni, die sorgenvoll aus dem Fenster ihrer Wohnung guckt, weil die Luxussanierung droht (Linke). Scharbach, 61, geht jeden Tag an den Plakaten vorbei, ohne es zu merken. Außer wenn er dagegen läuft, sagt er, dann weiß er zumindest, dass dort eines steht.

Scharbach ist blind. Und Wählen hat sehr viel mit Sehen zu tun. Plakate zum Anschauen, Wahlprogramme zum Lesen, Stimmzettel im Wahllokal zum Lesen und Ankreuzen. Wie also wählen die 1,2 Millionen Menschen in Deutschland, die nichts oder nur wenig sehen?

Er hat sich jetzt an den Konferenztisch gesetzt, zündet sich eine Pfeife an und klappt eine große weiße Pappschablone auf. Scharbach ist seit 1981 Geschäftsführer des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins in Berlin. Die Schablone, die Wahlschablone, hat 30 Löcher, die Zahlen sind auch in Blindenschrift eingestanzt. "In der Wahlkabine legt man den Stimmzettel in die Schablone und kann dann sein Kreuz machen", sagt Scharbach. Dass der Stimmzettel richtig herum liegt, erkennt er an einer abgeschnittenen Ecke - die muss oben rechts sein. Die Wahlschablonen gibt es seit 1994, bevor gewählt wird, verschicken die Blindenvereine sie an ihre Mitglieder. Wer kein Mitglied ist, kann sie dort anfordern.

Wählen hat sehr viel mit Sehen zu tun. In Berlin stehen vor der Wahl am 18. September überall Plakate, wie hier an der Frankfurter Allee. (Foto: Wolfgang Kumm/dpa)

Aber trotz Schablone weiß ein Blinder nicht, welche Partei sich unter welchem Loch befindet. Deswegen verschickt der Berliner Verein vor der Wahl mit den Schablonen auch CDs an seine Mitglieder, auf denen das erklärt wird, Loch und Partei. "Für die Bezirkswahlen und für die Wahl des Abgeordnetenhauses gibt es insgesamt 102 verschiedene Stimmzettel", sagt Scharbach, und weil das für 2600 Mitglieder sehr viele CDs machen würde, gibt es für alle zwölf Bezirke nur je eine. Der Wähler muss sich bis zu seinem Wahlkreis durchhören und dann merken, welche Nummer seine Partei hat. Das Ganze dreimal, für alle Stimmzettel.

Es gehe darum, dass jeder Mensch sein Kreuz allein machen kann. Doch Manfred Scharbach denkt auch an die Zeit vor der Wahl, die Wahlprogramme. "Vor der Wahl haben wir alle 22 Parteien in Berlin angeschrieben, ob sie ein barrierefreies Parteiprogramm haben", sagt er. Mit "Ja" hätten fünf Parteien geantwortet. Die Berliner CDU zum Beispiel. Sie bietet einen Film an, wo zu hören ist, was die Partei verspricht. Allerdings werden die wichtigsten Fakten und wer gerade spricht, im Hintergrund eingeblendet. Ohne Ton. Doch 17 der 22 Parteien antworteten gar nicht. Das ärgert Scharbach. Es müsse doch selbstverständlich sein, dass sich alle Menschen im Vorfeld zu einer Wahl informieren könnten. Andererseits: Das erleichtert für ihn auch vieles. "Die Parteien, die es nicht für nötig halten, zu antworten, wähle ich nicht."

Manfred Scharbach, 61, ist seit dem Jahr 1981 Geschäftsführer des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins in Berlin. Der verschickt Wahlschablonen an 2600 Mitglieder. (Foto: ABSV/Rändel)

Scharbach setzt sich wieder vor den PC, er will sich über das Wahlprogramm der Grünen in Berlin informieren. Ein Programm wertet den Inhalt der Seite aus, eine Computerstimme liest ihn vor. Auf der Tastatur tippt er, ein anderes Gerät gibt das Gesagte in Blindenschrift wieder. Fünf Minuten später hat er das Wahlprogramm gefunden, 140 Seiten zum Runterladen. Als Blinder im Internet zu surfen, ist nicht gerade einfach.

Aber Manfred Scharbach befindet sich noch in einer ziemlich komfortablen Situation. Denn Berlin ist das einzige Bundesland in Deutschland, in dem alle Stimmzettel auf die immer gleiche Schablone abgestimmt werden. In anderen Bundesländern funktioniert das nicht immer so gut, manchmal passen Zettel und Schablone da nicht zusammen. Torsten Resa vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverein ist Experte für das Thema Wahlen, er sagt: "Bei Bundestags- und Europawahlen klappt das mittlerweile gut, aber je kommunaler und lokaler es wird, desto schwieriger wird es." Die Stimmzettel seien oft kompliziert und die Kommunen vergäßen, sich um eine passende Schablone zu kümmern. "Im schlimmsten Fall landet das Kreuz dann bei der falschen Partei."

© SZ vom 30.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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