Politik als Bestseller:Helmut Schmidt Superstar

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In unsicherer Zeit erinnern zwei Bestseller an den Mann, der die Pinne der Macht noch fest in den Händen hielt: Altkanzler Helmut Schmidt. Politik muss für Ordnung sorgen, findet er.

Hans-Jürgen Jakobs

Er hat es, wieder einmal, geschafft. Anderes war nicht zu erwarten. Helmut Schmidt, der Lieblingspolitiker der Deutschen, ist gleich zweimal in den Bestsellerlisten vertreten. Ganz oben steht er mit seinem Erinnerungsbuch "Außer Dienst" - und auch für die vom Altkanzler unterstützte Biographie "Helmut Schmidt" des langjährigen Spiegel-Redakteurs Hans-Joachim Noack reicht es für einen Platz in den Top Ten. Wenige Wochen vor Schmidts 90. Geburtstag leistet der klar-kantige Norddeutsche noch einmal Dienste als Volkes Liebling.

Ein Altkanzler auf allen Kanälen: Helmut Schmidt begeistert viele Deutsche. (Foto: Montage: sueddeutsche.de)

In Zeiten, in denen sich die politische Klasse diskreditiert, weil sie zum Beispiel Banken schlecht beaufsichtigt hat und Bürger nicht mehr versteht, ist die Sehnsucht groß nach einem, der mit sicherer Hand die Pinne hielt und als Senator, Minister und Kanzler entscheidungsstark war. Einer wie Schmidt ist nicht einfach "links" oder "rechts", er gibt sich als Parteigänger der Vernunft - mit einer großbürgerlichen Radikalität, die an Starrköpfigkeit grenzt.

Ausbruch aus dem Meinungsstrom

So schafft es "Schmidt-Schnauze" in Deutschland auf den Spitzenplatz der Ideal-Politiker. Helmut Schmidt Superstar. Irgendwie hat er ja allem und allen getrotzt, den Auswirkungen der Sturmflut in Hamburg, den großen Währungskrisen, dem Terror der Rote-Armee-Fraktion und ihrer internationalen Mordgesellen, dem bayerischen Kraftprotz Franz Josef Strauß, den linken Systemverändern und den rechten Gegnern der Ostpolitik.

Er war der Mann der Verantwortung, der von Gesinnungsethikern nichts hält. In seiner Partei SPD waren ihm linke Sozialdemokraten wie Willy Brandt oder Erhard Eppler fern.

In Schmidts eigenem Bilanzbuch fällt auf, wie lustvoll er immer wieder aus dem Meinungsstrom ausbricht. So lobt er beispielsweise die "straffe, autoritative Führung" des asiatischen Stadtstaates Singapur, der Menschen verschiedener Ethnien und Anhänger verschiedener Religionen gut integriert habe. Ein Vorbild für Demokratie ist Singapur nicht gerade.

Hier und da ein lobendes Wort

Am kräftigsten fallen Schmidts Striche auf seinem Lieblingsgebiet aus, der Wirtschaft. Hier zieht der "Weltökonom" streckenweise vom Leder, dass es eine Freude ist. Zum Beispiel wettert er gegen die "ansteckende Habgier" und hält ein Schmerzmittel parat, das auch Oskar Lafontaine empfehlen könnte: eine obere Begrenzung der Bezüge für Spitzenmanager. Sie könnte definiert werden als ein Vielfaches der Bezüge eines Bundeskanzlers oder auch des Durchschnitts der Arbeitnehmer, schreibt Schmidt. Geprüft werden sollten auch die branchenüblichen Aktienoptionen für Manager: Hier sieht der Diplom-Volkswirt "eine stillschweigende Einladung zur Manipulation des eigenen Aktienkurses und zur Spekulation".

Natürlich findet ein Mann wie Schmidt in der Rückschau auch hier und da ein lobendes Wort für eigene Taten, etwa für die vor mehr als 30 Jahren gemeinsam mit Frankreich gestartete Initiative für eine einheitliche Europa-Währung. Nun will der Altkanzler, dass künftig mit dem US-Dollar, dem chinesischen Renminbi und dem Euro ein starkes "Dreieck von Weltwährungen" entsteht und die involvierten drei Zentralbanken eng kooperieren.

Als hätte er die Ausmaße der derzeitigen Weltwirtschaftskrise vorhergesehen, bilanziert Schmidt, die Spekulationen privater Finanzmanager "gefährden die reale wirtschaftliche Entwicklung des eigenen Landes oder sogar der ganzen Welt". Er sieht "Massenpsychosen unter Finanzmanagern". Die aktuelle Finanzkrise hätte auch von Investmentfonds ausgehen können, deren Geschäftsrisiken außerhalb der veröffentlichten Bilanzen bleiben. Das ist der "Raubtierkapitalismus", den Schmidt bekämpft.

Er will deshalb eine transnational wirksame Aufsicht der Weltfinanzmärkte, die der "gefährlichen spekulativen Zügellosigkeit" entgegenwirken soll. Diese Aufsicht solle beim Internationalen Währungsfonds liegen. Zugleich warnt er vor den Risiken, wenn Banken oder Fonds vom Staat gerettet werden, um einen "Domino-Effekt" zu verhindern. Damit nehme man mehr Inflation sowie negative Wechselkurseffekte in Kauf: "Niemand kann rezessive Weiterungen ausschließen."

Erfahren Sie auf Seite Zwei mehr über Schmidts problematisches Verhältnis zu Brandt und den Grünen

Es sind solche unmissverständlichen Aussagen, die Zweifler begeistern können - und die größten Zweifler sind von Natur aus Journalisten. Hans-Joachim Noack, von 1968 an bis 2005 im Dienst bei der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Rundschau und dem Spiegel, lobt den von ihm Beschriebenen denn auch als "Mann der klaren Worte", der das Spielchen mit off the record und on the record nicht nötig hatte: "Geriet er in Wallung, langte er wie eh und je kräftig hin." Dem Sozialdemokraten hatte sich der Reporter über das Schachspielen genähert; die Partien der beiden gewann offenbar meistens Schmidt.

Es ist die linksliberale Welt der Zeit nach 1968, die der Biograph wieder im Detail auferstehen lässt. Die Zeit der Utopien und Wagnisse, der Abrechnung mit den Nazis und den realpolitischen Enttäuschungen, der Friedenssehnsucht und der Aufrüstung. Sehr solide, aber eine Spur zu brav charakterisiert Noack den "vor Ehrgeiz lodernden Krisenmanager".

Der "Scheißkerl" Brandt

Es geht noch einmal ganz intensiv um die sozialliberale Koalition (1969 bis 1982) und den Wechsel von Willy Brandt auf Schmidt, damals 1974. Und es wird deutlich, dass es damals wie später zweimal SPD in der SPD gab: Einmal die Macher-Pragmatiker-Partei (einst Schmidt, heute Steinmeier) und dann die Sozialisten-Veränderer-Partei (einst Brandt, heute Andrea Nahles).

Schmidt gibt zu, Brandt einmal als "Scheißkerl" bezeichnet zu haben. "Da standen sich zwei verschiedene politische Naturelle gegenüber, die nicht mehr ins Gespräch miteinander kamen", formuliert er in seiner eigenen Bilanz. Ein kleiner Clou des Buches ist, dass es 1993 nach dem Abgang von Björn Engholm an der Parteispitze Überlegungen gab, Helmut Schmidt zurückzuholen in die Verantwortung und in den politischen Kampf gegen Helmut Kohl: Da sei "durchaus was dran", erzählt Schmidt nun. Er war ja erst 74.

Noack erzählt chronologisch das Leben des Lehrersohns aus dem roten Hamburger Stadtteil Barmbek, der Kameradschaftsführer der Hitlerjugend wird und "einzelnen NS-Ideen" zunächst durchaus nahesteht, wegen des angeblich verfochtenen "quasi-sozialistischen Moments". Er eckt aber schnell an und lehnt sich innerlich gegen die NS-Diktatur auf. Schmidt, Enkel eines Juden, wird Soldat und macht eine kleine Offizierskarriere in der Wehrmacht; dort will er von Exzessen und Übergriffen während des Krieges nichts mitbekommen haben.

Aufstieg nach dem Krieg

Zum "Dritten Reich" schreibt Schmidt selbst: "Wir haben zwar nichts von ihren schweren Verbrechen, nichts von dem fabrikmäßigen Massenmord in Auschwitz und anderwärts gewusst. Aber immerhin hatte ich begriffen: Die Nazis sind verrückt."

Im Folgenden beschreibt Noack Schmidts politischen Aufstieg nach dem Krieg aus beengten Verhältnissen, immer wieder beschlichen von Ausstiegsgelüsten. Dann kommt die Zeit der Studentenunruhen, und Schmidt hat zunächst Verständnis für die Proteste, um dann als großer Ankläger aufzutreten, als Revisionist der SPD, der es mit dem Machbaren hält, nicht mit dem Utopischen, wozu er als Regierungschef acht Jahre Gelegenheit hatte. Dass Schmidt noch heute die Friedensbewegung geringschätzt, aus der die Partei der Grünen hervorging, macht seinem Biographen erkennbar zu schaffen.

Auf Seite drei: Schmidts Einschätzung der Außenpolitik von Joschka Fischer und US-Präsident Bush

Für Noack war Schmidt insgesamt nicht nur der "Hardliner aus Hamburg", sondern auch "der erste Medienkanzler der Republik", weil er Themen setzte und die Presse und das Fernsehen zu benutzen verstand, weil er ein starkes amerikanisches Element in den Bundestag einbrachte. Er war ein Macher, der nicht nur Macher sein wollte, ein "Kanzler des Übergangs", der das Gewicht der alten Bundsrepublik "gewahrt und etwas gemehrt" haben will.

Schmidt selbst führt in seinem Buch "Außer Dienst" selbstkritisch einige eigene Fehler auf: Zum Beispiel, dass er 1982 als Kanzler nicht von sich aus rasch Neuwahlen herbeigeführt habe, sondern Rücksicht auf den schwankenden Koalitionspartner FDP nahm. Und er räsoniert über seinen Machttrieb und die frühere Einschätzung, hohe politische Funktionen nicht angestrebt zu haben: "Unbewusst könnte ich diese Ämter vielleicht doch gewollt haben." Auch SPD-Parteichef wollte er, mehr unbewusst, werden.

Primat der Politik

Als Vorbilder nennt Schmidt politische Realisten wie Ernst Reuter, Wilhelm Kaisen, Max Brauer, Wilhelm Hoegner, Waldemar von Knoeringen, Fritz Erler und Heinz Kühn. In dieser Weltsicht sind Politiker Praktiker, die fortwährend Schäden der Gesellschaft reparieren: "Überall muss die Regierung für Ordnung sorgen, nirgendwo kommt Ordnung von selbst." In Schmidts Welt gilt noch das Primat der Politik und nicht ein diffuses Interessenkartell.

Scharf wendet er sich gegen Lobbyisten aller Art und befindet: "Manche Verbände sowie einige große industrielle Unternehmen und Medienkonzerne haben aufgrund ihrer Macht und ihres Einflusses zuviel politisches Gewicht erlangt." Andererseits beklagt er, dass es nur eine heimische Bank mit internationalem Einfluss gebe, die Deutsche Bank. 1975, bei der Einführung großer Wirtschaftsgipfel, habe er sich auf Wilfried Guth als Ratgeber verlassen können, den damaligen Sprecher der Deutschen Bank. Dessen Funktion nannte er scherzhaft "Sherpa" (Bergführer). So heißen sie noch heute.

Gelassenheit und Pflichterfüllung zählen für Schmidt

Außenpolitisch kann Schmidt mit der Politik des aktuellen US-Präsidenten wenig anfangen und argumentiert vehement gegen die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Polen und Tschechien, was einen Rüstungswettlauf sowie Spannungen mit Russland provoziere: "An beidem können die europäischen Nato-Partner kein Interesse haben, am wenigsten Deutschland."

Schmidt ist auch weiter energisch gegen die Beteiligung der Bundeswehr in Kriegsgebieten. Deutschland habe sich "an einer eindeutig völkerrechtswidrigen internationalen Intervention in Bosnien und im Kosovo beteiligt", auch würden die Gefahren durch den Terrorismus keinen militärischen Einsatz rechtfertigen ("Verstoß gegen das Völkerrecht").

"Einmal sehen ist besser als hundertmal hören"

Hier äußert sich einer, der 1945 mit 27 nach acht Wehrpflichtjahren nach Hause kam und aus den Selbstbetrachtungen des römischen Kaisers Marcus Aurelius gelernt hat, dass innere Gelassenheit und Pflichterfüllung zählen. Einer, der deklamiert: "Ein Politiker darf sich nicht allgemeinen Stimmungen oder gar Massenpsychosen hingeben. Er muss auf seine Vernunft hören."

Einer, der es mit Poppers Prinzip der schrittweisen politischen Veränderung hält, der die Handlungsunfähigkeit der EU beklagt, Führung fordert und findet, dass man auch Diktatoren zuhören muss. Schmidt zitiert das chinesische Sprichwort: "Einmal sehen ist besser als hundertmal hören."

Also ist er viel gereist und hat seinen Abschlussbericht stets treu an das Auswärtige Amt ("Mein Außenminister sollte zumindest über die gleichen Informationen verfügen wie ich") geschickt - eine Übung, die erst mit Rot-Grün 1998 endete. "Erst als Joseph Fischer ins Amt kam, habe ich diese Praxis eingestellt." So kann man ein Werturteil auch formulieren, und dem Mann, den sie "Joschka" nennen, wird es nicht gefallen. Aber der ist ja auch: außer Dienst.

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