Polen in  Berlin:Sie zeigen sich

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Grenzenlos bunt: ein Straßenfest in Berlin-Kreuzberg. (Foto: Picture-Alliance/Eventpress)

Hippes Streetfood und Konzerte: Die zweitgrößte Ausländergruppe gibt sich selbstbewusster denn je.

Von Nadia Pantel

Im Jahr 1828 fuhr ein 18-jähriges Wunderkind von Warschau nach Berlin. Es ging in die Oper, gab selbst ein Konzert, wie Wunderkinder es eben tun, und nach einigen Tagen Schlenderei fällte es in einem Brief an die Familie sein Urteil über die preußische Hauptstadt: "Meine Meinung über Berlin: Es ist zu groß für die Deutschen. Es könnte ohne Weiteres noch mal so viele Einwohner fassen." Als Frédéric Chopin wurde das Wunderkind berühmt und vielleicht wäre der Pianist heute zufrieden, wenn er sich zwischen Deutschen, Spaniern, Türken, Arabern, Polen, Russen und Schweden in die U-Bahn quetschen würde. Berlin ist voll, Berlin ist bunt.

Als Aleksandra Kozlowska 2003, 175 Jahre nach Chopin, von Polen nach Berlin kommt, muss sie keine fünf Tage in der Postkutsche herumhocken. Eine knappe Stunde braucht man, um von Warschau nach Berlin zu fliegen. Und außer Kozlowska sind schon 100 000 andere Polen in der deutschen Hauptstadt angekommen. Nach den Türken sind sie die zweitgrößte Ausländergruppe Deutschlands. Berlin also auf den Spuren von Fryderyk Chopin und Róża Luksemburg? Nicht ganz. Die polnische Sozialistin Luksemburg wurde in Berlin nicht nur umgebracht, sondern auch eingedeutscht und vom aktiven polnischen und polnisch-jüdischen Kulturleben, das Berlin bis vor dem Zweiten Weltkrieg prägte, waren in der wiedervereinten Stadt der frühen 1990er-Jahre nur ein paar polnische Zigarettenhändler übrig.

Die Kunden kaufen nicht nur, sie wollen auch mehr wissen über das Nachbarland

2014 entschied sich die Wahlberlinerin Kozlowska, in dieser heimlich polnischen Stadt einen Laden für polnisches Design zu eröffnen. "Made in Poland" steht nirgends in ihrem hellen Verkaufsraum. Dafür an der Hauswand ein großes, weißes Schild: "No Wódka". "Damit die Leute gleich wissen, dass es hier nicht das gibt, was sie von Polen sonst so erwarten", sagt Kozlowska. "Kein Wodka, keine Zigaretten, keine Putzfrauen." Blicken die Deutschen wirklich mit der gleichen Beschränktheit auf das Nachbarland wie vor 20 Jahren? Überspielen sie in Stammtischrunden und Fernsehshows die eigene Bräsigkeit immer noch mit Witzen über klauende, faule Polen? Kozlowska überlegt. Neben Porzellan, Möbeln und Mode gibt es in ihrem Laden inzwischen auch Reiseführer für Warschau und Breslau. Die Kunden kaufen nicht nur, sie wollen mehr wissen über das Nachbarland. Doch gleichzeitig, erzählt Kozlowska, geht einer der klassischen Dialoge in ihrem Laden so: Der Kunde begutachtet eine Kaffeekanne: "Wow, sie haben hier ja tolle Sachen." Dann lächelt Kozlowska und sagt: "Ja, die kommt aus einer polnischen Manufaktur. Hier ist alles in Polen hergestellt." Darauf der Kunde, hastig: "Damit habe ich kein Problem!"

Vielleicht haben die Deutschen ein paarmal zu oft "polnische Wirtschaft" gesagt und damit nichts anderes gemeint als einen Haufen Chaos. Vielleicht haben sie sich zu oft eingeredet, dass es irgendwie schon richtig sein wird, wenn Polen für einen lachhaften Lohn in Deutschland Äpfel von den Bäumen holen und Spargel aus der Erde. Vielleicht hatten sie vor all der Bewunderung für die USA, Frankreich oder Italien irgendwann keinen Platz mehr in Hirn und Herz, um zu begreifen, dass ihr östliches Nachbarland nicht nur schön war, sondern von Deutschen erst aufgeteilt, dann zerbombt und schließlich vergessen wurde. Und nun stehen sie bei Kozlowska im Laden und wollen den Schaukelstuhl im sozialistischen 60er-Jahre-Design haben oder die Socken, auf denen Warschaus Kulturpalast zu sehen ist.

Kozlowska ist gerade 33 Jahre alt geworden. Sie sagt, es war eine "ästhetische Entscheidung", den Laden zu eröffnen. Sie wollte sich mit Dingen umgeben, die sie schön findet. Dass sie diese Dinge vor allem in Polen fand, hat sie selber überrascht. Mit Anfang 20 hatte sie nur ein Ziel: weg aus dem Heimatland. Ihr Geburtsort Stettin war ihr zu konservativ, zu katholisch, zu kleinbürgerlich, zu eng. Ein geisteswissenschaftliches Studium in Berlin und viele Jobs später, fährt Kozlowska nun mit anderem Blick nach Polen: "Den Laden zu eröffnen hat auch ein bisschen was von einer Selbsttherapie. Ich zeige mir und meinen Kunden, was es alles Schönes in Polen gibt." Kozlowska ist keine Patriotin und doch glaubt sie, dass in dem Design, das sie ausstellt, etwas von der polnischen Mentalität steckt: "Man braucht kein Loft, damit diese Gegenstände schön aussehen, sie lassen sich sehr leicht überall einfügen. Und das ist auch Ergebnis der polnischen Erfahrung. Keiner spricht unsere Sprache, unsere Geschichte ist zu kompliziert, um sie schnell zu erklären, uns bleibt nichts anderes übrig, als uns zu integrieren."

Lange bedeutete diese Integration für die Polen ein Verschwinden, ein Unsichtbarwerden im deutschen Alltag. In ihrem preisgekrönten Essay "Ich bin wer, den du nicht siehst", beschreibt die Journalistin Emilia Smechowski, wie ihre Familie Ende der 1980er-Jahre von Polen nach Deutschland kam: "Deutsch bedeutete Erfolg und Geld. Polnisch bedeutete Armut. Und etwas Dreck." Wenn die Eltern kochten, "gab es Tomate mit Mozzarella, Lasagne und Tiramisu. Von Piroggen hatten sie genug". Dieses "Strebermigrantentum", wie Smechowski es nennt, hat sich verändert.

Das zeigt sich nicht nur in Kozlowskas Laden "No Wódka" in Prenzlauer Berg. Ein paar Tramstationen weiter, in Mitte, hat das "Tak tak polish deli" eröffnet. Polnische Oma-Küche als hippes Street Food deklariert. In Kreuzberg veranstaltet die Polin Julia Bosski aufwendige polnische Dinnerparties. Sie lädt Starköche aus Warschau ein, Horden junger Großstädter zahlen 40 Euro für polnische 5-Gänge-Menüs. Und in Berlin-Neukölln hat neben einer Handvoll neuer, polnischer Cafés für die verkaterten Party-Touristen auch die erste polnische Buchhandlung des wiedervereinten Berlin eröffnet.

Vor Weihnachten kaufen viele Deutsche Bücher für die polnische Putzfrau oder Pflegekraft

"Buchbund" hat Marcin Piekoszewski seinen Laden genannt, draußen über der Tür hängt eine rote Fahne, drinnen läuft amerikanischer Blues, vorne liegen deutsche und englische Neuerscheinungen, im hinteren Teil des Ladens gibt es Kaffeemaschine und Kuchentheke und Literatur von Szymborska, Stasiuk, Gombrovicz, auf Deutsch und auf Polnisch. Der "Buchbund" ist wie viele der neuen Läden in Neukölln: Man sieht ihm an, dass jemand hier nicht nur Geld verdient, sondern sich einen Traum erfüllt hat.

Dass Piekoszewski seit mehr als zehn Jahren in Berlin lebt, hat einen einfachen Grund. Er hat sich verliebt. In eine deutsche Erasmus-Studentin, der er nach Berlin gefolgt ist. Heute zieht er mit seiner Frau zwei Kinder auf Deutsch und Polnisch groß. Bevor er den Buchladen eröffnete, war er sich nicht sicher gewesen, wie viele poleninteressierte Menschen in seiner Nachbarschaft leben. Inzwischen weiß er: Es sind viele. Bei ihm kaufen Deutsche, die Polen als Austausch-Studenten kennenlernten oder die nach einem Urlaub im Nachbarland Lust auf polnische Literatur bekamen. Zu seinen Stammkunden zählen polnische Übersetzer, Literaten, Journalisten. Menschen, die einen deutschen Alltag leben und die bei Piekoszewski einen Ort gefunden haben, an dem sie polnische Kinderbücher ebenso finden wie Diskussionsabende zu Kultur und Politik.

Er hat sich gewundert, sagt Piekoszewski, dass vor ihm noch keiner die Idee hatte, einen polnischen Buchladen zu eröffnen, immerhin hat er 100 000 potenzielle Kunden. Doch von der Idee, dass die Polen in Deutschland unsichtbar seien, hält er nicht viel. Piekoszewski spricht ein langsames, exaktes Deutsch, er streicht sich das Haar aus der hohen Stirn während er beginnt, seine Gedanken im Sprechen zu sortieren: "Ich glaube, das ist ein deutsches Problem, kein polnisches Problem. Es gibt in der Stadt so viel polnische Kultur, so viele Konzerte, Lesungen, Ausstellungen. Und trotzdem sagen die Deutschen, dass die Polen nicht sichtbar sind. Vielleicht wollen die Deutschen die Polen nicht sehen?"

Jedes Jahr vor Weihnachten, hat Piekoszewski bemerkt, ist das deutsche Interesse an polnischer Literatur am Größten. Dann kommen Kunden, die für ihre polnische Putzfrau, für die Pflegekraft ihrer Mutter oder ihres Großvaters oder für den Mann, der ihnen die Küche renoviert hat, ein Buch zu kaufen.

Die Unsichtbarkeit der Polen in Deutschland: Das ist nicht nur ein kulturelles, sondern auch ein ökonomisches Phänomen. Wer arm ist, wird übersehen und ausgeblendet. Das gilt für deutsche Hartz 4-Empfänger ebenso wie für Polen mit Mini-Job. Der Unterschied ist, dass die Wahrscheinlichkeit, arm zu sein, für Polen deutlich höher ist, als für Deutsche. Die Migration von Ost nach West ist seit dem Fall der Berliner Mauer eine Wanderung von den Ruinen des Sozialismus hin zu den Aufstiegschancen im westlichen Kapitalismus. Für Generationen von Polen bedeutete das, dass sie in der zweiten oder dritten Reihe dieses Kapitalismus Platz nehmen mussten. Dort, wo es weder Festanstellungen noch Urlaubsgeld, noch soziale Absicherung gibt.

Piekoszewski war vom Erfolg der Nationalisten nicht überrascht, aber er hat sich geschämt

Doch mit dem wirtschaftlichen Erfolg Polens änderte sich diese Dynamik. Junge Warschauer kommen heute mit demselben Selbstbewusstsein nach Berlin, wie es Menschen aus Schweden oder Frankreich tun. Dass sie Europäer sind, ist für sie selbstverständlich. Dass der Westen nicht das gelobte Land ist, auch. Junge Polen tun in Berlin, was auch die anderen internationalen Neu-Berliner tun: feiern, knutschen, streiten, eine Nische zum Leben suchen. Und wenn das Polnisch-Sein dabei hilft, ihrer Geschäftsidee Wiedererkennungswert zu geben, dann denken sie sich halt ein slawisches Wortspiel aus, das sie auf ihre Visitenkarte schreiben können.

Und als wäre Politik ein mittelorigineller Fernsehfilm, kommt genau in diesem Moment entspannter Normalität alles anders als erwartet: Im Winter 2015 gewinnt die nationalpopulistische Pis-Partei in Polen die Wahl. Auch, weil die Vorgängerregierung jegliche soziale Fragen derart ignorierte, dass die Pis unter Kaczyński als Heilsbringer der Armen auftreten konnte.

Buchhändler Piekoszewski glaubt nicht, dass in Polen vor Regierungsantritt der Pis alles immer nur bergauf ging. Es sei doch bezeichnend, dass es vor der Pis niemandem einfiel, tatsächlich mal Kindergeld in Polen einzuführen. Piekoszewski war nicht überrascht, als Kaczyński triumphierte, aber er hat sich geschämt. Weil Polen nun alle finsteren Vorurteile bestätige und sich inkompetent, xenophob und antisemitisch zeige. Genau das Polen-Bild, gegen das er mit seinem Buchladen anarbeitet: "Wenn Kaczyński regiert, dann glauben alle, alle Polen sind so. Die andere Seite verschwindet." Der beste Verbündete von Nationalisten wie Kaczyński sei die Ignoranz, sagt der Buchhändler. Wer nichts übers Nachbarland weiß, übernimmt auch schneller vorgegebene Feindbilder.

Berlin hat das Glück, dass hier die Veteranen der deutsch-polnischen Feindbildbekämpfung arbeiten. Seit 16 Jahren betreiben Adam Gusowski und seine Freunde in Mitte den "Club der polnischen Versager". Anders als in Kozlowskas Design-Laden gibt es hier genau das, was man von Polen erwartet: Wodka und billiges Bier. Rund um die Bar drücken sich magere Modemenschen herum, Freitagabend, Vernissage. Im Hinterzimmer sitzt Gusowski und trinkt Feierabendbier. Allerdings hat ein geduldiger Polen-Erklärer wie Gusowski zurzeit nie Feierabend.

Gusowski lebt in Deutschland seit er ein Teenager ist. Den Club der polnischen Versager hat er mitgegründet, damit man sich "einfach mal normal unterhalten" kann. Kunst und Irrsinn, statt Heimatnostalgie und Schuldfragen. Um sich diesen Freiraum zu erhalten, mischen sich die polnischen Versager nun auch ein wenig in die Politik ein. Im Winter scheiterte der Pis-nahe neue polnische Botschafter in Berlin daran, ein Kino zu finden, das den anti-russischen Propaganda-Film "Smolensk" zeigen wollte. Sofort stand der Vorwurf im Raum: Deutschland zensiert Polen. Gusowski wollte die Quatsch-Debatte nicht länger ertragen und organisierte selber eine "Smolensk"-Vorführung. Ein furchtbarer Film, findet Gusowski. Aber er fand es unerträglich, dass sich die polnischen Nationalisten als unterdrückte Minderheit inszenierten. "Wir beackern das Feld der deutsch-polnischen Kultur seit fast 20 Jahren. Das können wir jetzt nicht Kaczyński überlassen."

© SZ vom 23.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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