Pentagon in Washington:Wiederaufbau als Therapie

Lesezeit: 5 min

Die Arbeiten am zerstörten Pentagon wurden in Rekordzeit abgeschlossen - das half, den Schmerz besser zu ertragen.

Marc Hujer

(SZ vom 12.09.2002) Arlington - Man wird sich daran gewöhnen müssen, dass die Uhr nicht mehr tickt. Fast ein Jahr lang wachte sie wie ein Vorarbeiter an der Unglücksstelle des Pentagon, sie gab Schlagzahl und Tempo vor. Man konnte sie von den Büros aus sehen, vom Parkplatz oder von der Interstate 395. Menschen, hieß es, arbeiteten länger, schneller, besser, solange die Uhr tickte, und sie fühlten sich wohl dabei. Jetzt schieben sich die Nullen unaufhaltsam über das Ziffernblatt, wie ein bösartiger Virus, der auslöscht, was gewesen ist.

"Let's roll", los geht's, "der Countdown für den 11. September 2002", steht über den Zahlen und darunter, bei der Spalte für "Tag", ist schon seit gestern eine Null zu sehen. Der Countdown läuft, Stunden, Minuten, Sekunden, Null, Null, Null. Es ist 9 Uhr 38 und ganz still, das erste Mal seit einem Jahr. Präsident George Bush sagt in seiner Rede vor dem Pentagon: "Wir werden den Krieg gewinnen, der hier begonnen hat."

Weg der Zerstörung

Am 11. September 2001 ist hier Flug AA 77 hineingerast, in Wedge One, die gerade renovierte Westflanke des Pentagon. Piloten sagen, es sei eine Meisterleistung gewesen, das Flugzeug die letzten Meter so präzise herunterzusteuern, über die befahrene Interstate und exakt in die Fassade des vierstöckigen Bürokomplexes hinein.

Das Flugzeug, eine Boing 757 der American Airlines, raste im 45-Grad-Winkel nach unten und hatte zuletzt eine Geschwindigkeit von 600 Kilometer pro Stunde. Es bohrte sich durch den E-Ring hindurch, den äußersten der fünf Gebäuderinge des Pentagon und weiter durch den Ring D und C, bis es vor Ring B zum Halten kam. Die Schnauze des Flugzeugs blieb in der inneren Wand des C-Rings stecken. Der Aufprall zerstörte die Zentrale des Marinegeheimdienstes und drei Tage lang brannte im Pentagon das Feuer und bahnte sich seinen Weg durch die Büroräume.

Wiederaufbau nach altem Vorbild

Ein Jahr später ist es, als habe der Anschlag niemals stattgefunden, als sei Amerikas wichtigstes Symbol der Macht und Stärke, der Sitz des Verteidigungsministeriums niemals beschädigt worden. Nichts ist mehr von dem Einsturz zu erkennen. Nicht einmal dort, wo die renovierte Fassade beginnt, lässt sich zwischen Altem und Neuen unterscheiden. Das Verteidigungsministerium hat veranlasst, dass das Pentagon wieder exakt wie vorher aussieht.

Es ließ die Sandsteinplatten für die Verschalung aus dem alten Steinbruch in Ellettsville im US-Bundesstaat Indiana kommen, um den Farbton der Fassade genau zu treffen. Es ordnete an, auch die Büroräume wieder so einzurichten, wie sie vor dem Anschlag waren, von der Farbe des Teppichs bis zur Anordnung der Schreibtische, als könne man den Terror so nachträglich ungeschehen machen. Nur die Wände sind inzwischen stahlverstärkt, aber das sieht man von außen nicht.

Rückkehr an den Arbeitsplatz

Mitarbeiter haben sich angeblich gefreut, wieder "nach Hause zukommen", aber sie sagen auch, es sei ein wenig gespenstisch, dass alles wieder wie vorher ist.

Das "Project Phoenix" ist die Geschichte einer Höchstleistung, als hätte das Land dies gebraucht, um die Demütigung des Terrors zu ertragen. Der Wiederaufbau des Pentagon ist fraglos ein fast einmaliger Erfolg der öffentlichen Bauwirtschaft geworden. Ein Jahr nach dem Terroranschlag ist der E-Ring wieder vollständig besetzt, 3000 Mitarbeiter kehrten zum Jahrestag an ihren Arbeitsplatz zurück.

Stastik über den Wiederaufbau

Kaum eine Minute blieb seit dem Anschlag ungenutzt. Nach nur drei Wochen gab das FBI die Unglücksstelle für die Bauarbeiten frei, dann folgte eine Erfolgsmeldung nach der anderen. Nach nur 32 Tagen konnte schon der Wiederaufbau beginnen, nachdem das Verteidigungsministerium alleine für die Abbrucharbeiten ein halbes Jahr veranschlagt hatte.

Bis zu 1500 Bauarbeiter waren Tag und Nacht im Einsatz. Sieben Tage in der Woche rissen sie die alten Fassaden ab, schafften etwa 50000 Tonnen Schutt fort, schweißten Tausende Stahlträger zusammen, zogen Zwischenwände ein, verlegten kilometerweise Kabel, installierten moderne Sprinkleranlagen und setzten bombensichere Fenster ein. Neun Monate nach dem Anschlag war die Fassade fertig, noch weitere drei Monate, und auch die Innenausstattung war wieder hergestellt, und das alles zu einem deutlich geringeren Preis als geschätzt. Mit 700 Millionen Dollar wurde das "Project Phoenix" veranschlagt, es hat schließlich nur 500 Millionen Dollar gekostet.

Gebäude der Superlative

Das Pentagon ist immer schon ein Gebäude der Superlative gewesen. Es gehört seit 1943 zu den größten Bürogebäuden der Welt und seit dem Sturz des World Trade Centers in New York bekam es seinen Titel zurück, das größte Bürogebäude Amerikas zu sein. Es ragt nicht hoch in den Himmel hinauf, sondern begnügt sich mit vier Stockwerken, aber es könnte dreimal die Büroräume des Empire State Building unterbringen.

23.000 Angestellte haben hier einen Arbeitsplatz, sie haben eine eigene U-Bahn-Station, zwei Dutzend Busstationen auf zwei Etagen und 9000 Parkplätze für Autos. Das Pentagon besteht aus fünf ineinander liegenden Gebäuderingen, die jeweils die Form eines Fünfecks haben. Die Büros werden durch fast 30 Kilometer Flure verbunden, ein monströses Gewirr aus Korridoren, das allerdings dank der speziellen Architektur schnell zu überbrücken ist: Es dauert angeblich keine sieben Minuten, um von einem Ort zum anderen zu kommen.

Schwere Suche nach Erinnungen

Anders als in New York, wo man ein ganzes Gedenkviertel schaffen will, muss man die Orte hier suchen, die an das tragische Unglück erinnern. Im Erdgeschoss des E-Rings hat das Verteidigungsministerium drei Büroräume für Andacht reserviert und zu einer bescheidenen "reflexion area" umgebaut.

Draußen ist vom Unglück nichts mehr geblieben, selbst der Rasen vor der Absturzstelle wird wieder angelegt, nur eine vom Feuer geschwärzte Steinplatte wurde am Fuß der Westfassade in die Wand eingepasst. Man hat darauf den schlichten Schriftzug "September 11, 2001" geschrieben und dahinter eine Urne eingelassen, mit den Namen der 184 Opfer (die fünf Entführer ausgenommen), Kinderzeichnungen und einer Rede von George W. Bush. Man muss die Steinplatte angestrengt suchen, um sie zu sehen.

Unbezahlbare Minuten

Es kamen 189 Menschen ums Leben, 125 Angestellte im Pentagon und 64 Menschen an Bord. Die Behörden hatten zu Beginn mit viel mehr Opfern gerechnet. Aber Flug 77 raste ausgerechnet in den einzig renovierten Teil des Pentagon. Hier waren die Wände bereits stahl- und betonverstärkt, es waren explosionssichere Fenster eingesetzt und moderne Löschsysteme eingezogen. Das Gebäude hielt an der Aufprallstelle immerhin 35 Minuten stand, bevor es in sich zusammenbrach. 35 unbezahlbare Minuten, die es vielen Mitarbeiter erlaubte, sich noch herauszuschleppen.

Gelder sammeln

Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Und der Wettlauf zog nicht nur die Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums in ihren Bann. Es war, als hätte ganz Amerika eine neue Aufgabe bekommen. Die Schauspielerin Bo Derek kam an die Unglücksstelle und gab den Bauarbeitern auf ihre Schutzhelme Autogramme, eine Schulklasse in Virginia sammelte 10.300 Dollar für den Wiederaufbau des Pentagon und entschloss sich, dafür eines der "blast resistent windows" zu kaufen.

Eine andere Schulklasse sammelte 515 Dollar in Penny-Stücken und kaufte dafür den Bauarbeitern Pizza für die Mittagspause. Das "Project Phoenix", sagt Leiter Lee Evey, habe Amerikaner zusammengebracht. "Dieses Projekt ist nicht nur Teil der mentalen Gesundheit unseres Gebäudes", sagt er, "sondern auch Teil der mentalen Gesundheit unseres Landes."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: