Papst Benedikt XVI.:Erlösung durch die schnelle Botschaft

Lesezeit: 8 min

Erschöpft, aber doch befreit: Wie der 78-jährige Kardinal Joseph Ratzinger aus Marktl am Inn der Welt seinen ersten Segen spendet.

Von Christiane Kohl, Matthias Drobinski und Hermann Unterstöger

Auch ein großer Platz kann plötzlich zu klein sein. Dicht gedrängt, Leib an Leib stehen die Menschen auf dem Petersplatz - mehr als 100.000. Ein paar Meter weiter rechts gibt es Streit, weil sich jemand vorgedrängelt hat.

Papst Benedikt XVI. zeigt sich. (Foto: Foto: AP)

Links neben der Säule bietet einer noch schnell eine Wette an: "Ich setze fünf Euro, dass es Kardinal Ratzinger wird", ruft der Mann und hebt im nächsten Moment sein Töchterchen auf die Schultern, damit es besser sehen kann. Keiner will dagegen wetten, und plötzlich ist auch keine Zeit mehr dazu.

Vorne an der Loggia der Petersbasilika ist der rote Samtvorhang in Bewegung gekommen, auf den hier Tausende von Augenpaaren starren. Die Tür zu dem Balkon wird geöffnet, der vor der Sala della Benedizione liegt. Eine rot gewandete Figur erscheint, hier unten in der Menge ist sie eigentlich nur miniaturklein zu sehen.

Es ist Kardinal Jorge Medina Estevez, der Protodiakon im Kollegium der Kardinäle, dem es traditionell obliegt, das "habemus papam" auszusprechen. Langsam beginnt der chilenische Geistliche, die Bürger der Welt in fünf Sprachen zu grüßen, dann heißt es: "Anuntio vobis gaudium magnum" - "ich verkünde euch große Freude", und endlich ist der Name da: "Dominum Josephum" - Medina Estevez macht eine Pause, dann erst hören die Menschen den Nachnamen - Ratzinger.

Mit zittriger Stimme

Jubel geht durch die Menge, Fahnen werden geschwenkt, auch viele deutsche sind dabei, gelbe Tücher wehen über den Köpfen. Doch droben an der Loggia müssen zunächst ein paar Vatikanmitarbeiter das Wappentuch über die Brüstung legen.

Weitere Minuten vergehen, dann tritt der neue Papst auf die Loggia, Joseph Ratzinger, der jetzt Benedikt XVI. heißt. Er trägt jene prachtvoll bestickte Stola, die nur ein neu gewählter Papst zu tragen pflegt. Er hebt die Arme, dreht sich nach allen Richtungen und wirkt freudig entspannt. Doch im nächsten Moment kreuzt er die Hände vor seinem Bauch, so als ob er sich vor irgendetwas schützen müsse.

Mit ein wenig zittrig klingender Stimme beginnt er dann zu sprechen. Nach dem "großen Papst Johannes Paul II. hat Gott einen einfachen, demütigen Arbeiter im Weinberg des Herrn" auserwählt - eben ihn selbst.

Es tröste ihn, dass der Herr auch "mit unzureichenden Instrumenten" zu arbeiten wisse , und so "vertraue ich mich euren Gebeten an". Dann ist Ratzingers kurze Ansprache schon vorbei, er beendet sie mit einem trockenen "Grazie".

Wieder kommt Jubel auf in der Menge, die Menschen klatschen, rufen und schwenken ihre Fahnen. Und doch scheint auf der Piazza kein Funke übergesprungen zu sein. Der Beifall ist groß, aber nicht besonders lang und auch nicht überwältigend. Eine dunkelhaarige Frau dreht sich um: "Beim letzten Mal war es hier anders", meint sie.

Zu oft haben die Italiener in den vergangenen Tagen die bewegenden Szenen gesehen, als Karol Wojtyla 1978 zum Papst gewählt wurde. Als er von eben dieser Loggia zu den Italienern sprach, ihnen auf Italienisch erzählte, er komme von einem "so fernen Land", als er zunächst meinte, in "eurer Sprache", sich dann korrigierte "in unserer Sprache" und schließlich erklärte: "Ihr müsst mich verbessern, wenn ich einen Fehler machen." Da war ein ganz anderer Beifall aufgebrandet, als an diesem Dienstagabend.

Die reine Linie des Glaubens

"Irgendetwas fehlt", fährt die Frau zu sprechen fort, "vielleicht ist es das Herzliche." Eine Schwester in schwarzer Tracht hält dagegen: "Er ist ein tüchtiger Geistlicher, er wird ein guter Papst."

Sein Name Benedikt sei "sehr, sehr kirchlich" wirft wieder jemand anders ein. Jetzt schaltet sich ein Herr in Schwarz ein, der als freier Mitarbeiter, wie er sagt, beim päpstlichen Zeremonienmeister arbeitet: "Er wird ein sehr guter Papst, da bin ich sicher", meint er und fragt: "Waren Sie schon mal in der Oper?" Mancher Tenor wirke vorher auch nicht wie eine große Stimme - "aber dann tritt er auf die Bühne und es ist alles anders".

Nun muss das kein schlechtes Omen sein. Doch dass Ratzinger seine Linie fortführen wird, das scheint spätestens seit seiner Predigt kurz vor dem Konklave sicher. Da hatte sich der Deutsch fast programmatisch erklärt, für die reine Linie des Glaubens und gegen eine "Diktatur des Relativismus".

Die erste Nacht als Papst wird Ratzinger noch in dem Hospiz Santa Martha auf dem Vatikangeländer verbringen, wo er zuvor auch noch mit den anderen Kardinälen ein Abendessen einnehmen wird.

Benedikt XVI. winkt der Menschenmenge auf dem Petersplatz zu. (Foto: Foto: Reuters)

Dann zieht der neue Pontifex Benedikt XVI. in die päpstlichen Gemächer des Apostolischen Palastes um. Zumindest technisch dürfte das für Ratzinger kein allzu schwieriger Umzug werden - er wohnt schon jahrelang zwar außerhalb des Vatikangeländes, aber nur einen Steinwurf davon entfernt.

An der vom Petersdom abgewandten Ecke des Gebäudes der Glaubenskongregation ist ein kleines Marienbild auf den Putz gemalt, kitschig und unbedeutend ist es, das geringste unter den Muttergottesbildern im Vatikan.

Doch gerade deshalb war die Mauernische zu einer Art Volksaltar für die Pilger aus aller Welt geworden. Kerzen brennen, eine polnische Fahne mit Trauerflor ist ans Eisengitter geknüpft, Plüschteddys und Kinderbilder zu Ehren des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. weichen langsam auf, Regentränen sind am Bild des kleinen Giovanni heruntergelaufen, der im Februar starb und die Beter mit großen, ernsten Augen anblickt.

"Aleluja"

Ein Schuhkarton deckel ist neu hier, gerade erst hingestellt. "Notize della Santa chiesa!" steht da. Und der unbekannte Autor betet dafür , dass Oscar Andres Rodrigues Maradianga Papst werde, "Aleluja".

Ein Verehrer des charismatischen Kardinals aus Honduras war ausgesprochen fleißig, seine Werbezettel hängen auch am Briefkasten um die Ecke, am Laternenpfosten.

Doch die Kardinäle haben anders entschieden. Die Lateinamerikaner haben interessante Biographien, sind aber theologisch unzuverlässig, hieß es in der Vorkonklavezeit bei den europäischen und nordamerikanischen Kirchenmännern.

Den Bestimmungen der Papstwahlordnung "Dominici universis Gregis" zufolge ist es verboten, vor der Wahl Absprachen zu treffen und Kandidaten durchzuhecheln, getan wurde es trotzdem. Und die Deutschen spielten diesmal eine wichtige Rolle - war es doch ein Deutscher, um den es ging.

Der Kölner Kardinal Joachim Meisner war bereits am Sonntag nach dem Tod des Papstes angereist, wegen eines privaten Termins, aber auch, um Werbung zu machen für Kardinal Ratzinger, mit dem Gewicht dessen, der eins der reichsten Bistümer der Welt leitet. Selbstsicher lief er am Montag nach der feierlichen Messe für einen neuen Papst durch die Reihen und forderte die Besucher auf: "Beten Sie für uns."

Trend bewährt

Auf der anderen Seite standen vor allem der Kurienkardinal Walter Kasper, selber als Außenseiter-Kandidat gehandelt, und der Mainzer Kardinal und deutsche Bischofskonferenzvorsitzende Karl Lehmann, die vor allem mit den Nordamerikanern versuchten, eine Sperrminorität zusammenzubringen, ohne selber einen überzeugenden, starken Gegenkandidaten präsentieren zu können.

Die einen aus dem liberalen Lager wollten offenbar im ersten Wahlgang dem ehemaligen Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini eine Chance geben, die anderen gleich Angelo Sodano unterstützen, den bisherigen Kardinalstaatssekretär.

52 Stimmen, so hieß es im Vorfeld, habe Kardinal Ratzinger schon vor dem Konklave auf sich vereint. Und in den ersten Wahlgängen wurde aus dem Trend offenbar eine unwiderstehliche Entwicklung.

Selbst von den deutschen Kardinälen hieß es, dass sie Ratzinger, mit dem sie manche Auseinandersetzung hatten, lieber wählen würden als einen unberechenbar konservativen Lateinamerikaner. Noch in der Messe am Montagmorgen hatte Ratzinger angespannt gewirkt, er schien erkältet, von der Anstrengung gezeichnet, hustete, seine Stimme klang heiser.

Doch davon ist wenig zu spüren in dem Moment, als er auf den Balkon tritt - als neuer Papst, der Kardinal aus Deutschland, der Mann aus Bayern Für Unkundige mag es schwer zu fassen sein, dass es Ratzinger ist, der in den nächsten Jahren als Papst Benedikt XVI. die Christenwelt regieren wird.

Beleg aus den Sternen

Aber dass Seiner Heiligkeit, wie der Mann aus Oberbayern nun angeredet wird, das Papsttum gewissermaßen in die Wiege gelegt war, lässt sich aus den Sternen gut belegen.

In Altötting, unweit von Ratzingers Geburtsort Marktl, gibt es eine reizende ältere Dame, eine Koryphäe für Astrologisches, die der Tat sache, dass der neue Papst am 16. April 1927 um 4.30 Uhr zur Welt kam, erstaunliche Aspekte abzugewinnen weiß.

Mit der Virtuosität der Kundigen jongliert sie die Feuerzeichen Widder, Löwe und Schütze, die drei Dreiecke, die aufeinander gelegt das "Auge Gottes" ergeben, und das Sextil zwischen Mars und Sonne.

Da helfe alles zusammen, sagt sie, und von einem Kollegen, dem sie das Horoskop zeigte, weiß sie, dass es ihm kalt hinunterlief vor so viel Berufung zum Hohen, Außergewöhnlichen.

Doch sind die Bayern nun aus dem Häuschen? Das wäre wider ihr Naturell, und die Aufgeregtheiten haben sie schon im so genannten Vorfeld lieber den anderen überlassen, insbesondere den Herrschaften von den Medien, die in alle von Ratzinger je bewohnten oder auch nur berührten Orte einfielen und wissen wollten, wie man das Kind Joseph, den Jugendlichen, den Theologen, den Kirchenfürsten in Erinnerung habe.

Ein sehr stiller Junge

Dass dabei nur wenig Authentisches herauskam, versteht sich beim Alter des Mannes, und so war es bereits ein schöner Treffer, als die Heimatzeitung eine Anna Fischer, geborene Selberdinger, ausfindig machte, die mit den drei Ratzinger-Kindern gespielt hatte und vom jetzigen Papst immerhin dies sagen konnte: "Den kleinen Joseph hörte ich nie schreien."

Man sollte dergleichen nicht gering schätzen, denn wenn von einem Papst berichtet wird, er sei ein stilles Kind gewesen , so wird das sub specie aeternitatis gesehen und ist das für die Exegeten, gleich welcher Observanz, das sprichwörtliche gefundene Fressen. Dinge, die man zu anderen Zeiten oder bei anderen Menschen als Quisquilien abgetan hätte, bekommen plötzlich ein völlig neues Gewicht.

Insofern ist jene Marktler Wirtin gut beraten, die Ratzingers Leibspeisen Apfelmaultaschen und Bröselschmarrn auf ihre Speisenkarte setzt: Sie kann auf regen Verzehr dieser weiland Arme-Leute-Gerichte bauen, und über kurz oder lang wird sich auch ein Theologe finden, der sie kirchen-, vielleicht sogar heils geschichtlich auswertet.

So unstrittig Ratzinger ein gebürtiger Bayer ist, so wenig lässt er sich für die touristisch so ergiebige Landestypologie vereinnahmen. Diese Typologie grenzt ja immer hart ans Klischee und will es, dass der Bayer lustig, barock, sinnenfreudig, derb fromm und geistig eher bescheiden sei.

Nicht einmal seine Gegner würden ihn, ganz oder teilweise, in diesem Muster wiedererkennen. Wenn ihn etwas von früh an kennzeichnete, dann eine Feinheit und Zierlichkeit, die der eine oder andere als Zimperlichkeit missverstehen mochte, die jedenfalls allgemein als unbayerisch eingeschätzt wird - was nicht heißen muss, dass die Bayern allesamt Grobiane wären.

Verzicht aufs Gaudium

Was Ratzinger Lustigkeit oder, wie man in seinem Fall besser sagt, Heiterkeit angeht, so wird nun wohl auch dem Karl-Valentin-Orden, den er im Januar 1989 entgegennahm, eine noch höhere Bedeutung zuwachsen, als der verleihende Verein, die Münchner Narrhalla, ohnedies schon hineinzulegen pflegt.

Wie lustig die Narrhalla ist, sah man damals daran , dass sie in der Weltoffenheit der Kirche Grund genug sah, den Präfekten der Glaubenskongregation zum Humoristen ehrenhalber zu küren.

Dieser zeigte sich der närrischen Herausforderung gewachsen, indem er erstens bekannte, als Student schon an Karl Valentins Grab gepilgert zu sein, und indem er zweitens der Faschingsgilde von dem Heidelberger Philosophen Kuno Fischer erzählte, der stets mit "Exzellenz" angeredet werden wollte.

Eines Tages wurde er ohnmächtig, und als er wieder bei Sinnen war, gestand ihm sein Butler, dass er in einem fort gesagt habe: "Wollen Exzellenz nicht wieder zu Exzellenz kommen?"

Wenn nun jemand zu ihm, Ratzinger, sagen wolle, ob Eminenz denn nicht wieder zu Eminenz kommen wolle, so könne er den beruhigen: Er sei durchaus bei sich, chez moi, wie der Franzose sage, also zuhause, und mancher hoffte, Ratzinger würde auch noch "in meines Vaters Wohnungen" sagen. Das geschah freilich nicht, für so eine Vermischung der Sphären wäre Ratzinger nicht Witzbold genug.

Ein erstaunliches Phänomen ist Ratzingers Faible fürs Volkstümliche, doch könnte es als Kompensation seiner Zartheit gedeutet werden, als die gelegentlich aufwallende Sehnsucht des Feinen nach Derbem, wobei es nie das krachert Bayuwarische ist, das ihn anzieht, sondern die etwas gesitteteren Äußerungen des gemeinen Mannes.

Gebirgsschützen mitgereist

Vor diesem Hintergrund wirkte es denn auch erheiternd, dass ihm, als er in Rom seinen 60. Geburtstag feierte, eine hiesige Delegation ein kleines Alphorn zum Geschenk machte. Allein die Vorstellung, dass ein Mann wie er daraus auch nur einen Ton hervorbringen könnte!

Damals begab es sich, dass die bayerische Folklore ihre oft übersehene Kultiviertheit beweisen und zur Völkerverständigung beitragen konnte. Er waren Gebirgsschützen mitgereist, nicht ohne vorher mit Rom einen Briefwechsel darüber geführt zu haben, ob sie zum Zweck des Salutschießens in Waffen anrücken dürften.

Italiens Behörden stimmten zu, und nun hatte die Friedensmacht Bayern Gelegenheit, sich von ihrer schönsten Seite zu zeigen. Die Schützen wussten um den Tag der Befreiung von deutscher Besatzung und den damit verbundenen Gefühlen, und obwohl sie für ihr Leben gern böllern, verzichteten sie auf das Gaudium.

Jetzt, da ihr Freund und Gönner Papst ist, werden sie das seinerzeit Versäumte reichlich nachholen.

© SZ vom 20.4.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: