Palästinensergebiete:"Unser Alltag ist düster"

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Die Literaturwissenschaftlerin Hanan Aschrawi spricht im Interview über die schwierigen Bedingungen, unter denen die Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland leben - und über die Zukunft dieser vor 40 Jahren von Israel eroberten Gebiete.

Thorsten Schmitz

Die 60-jährige Literaturwissenschaftlerin Hanan Aschrawi gehört zu den prominentesten Vertretern der Palästinenser. Die aus Ramallah stammende Christin leitet eine Initiative zur Förderung von Dialog und Demokratie und sitzt als Vertreterin der unabhängigen Partei "Der dritte Weg" im Palästinenserparlament.

Literaturwissenschaftlerin Hanan Aschrawi (Foto: Foto: dpa)

SZ: Vor 40 Jahren eroberte Israel den Gaza-Streifen und das Westjordanland. Wie sieht der Alltag in den beiden Palästinensergebieten heute aus?

Aschrawi: Düster. Das Leben unter Besatzung ist sehr schwierig, es verursacht außerordentlich große Schmerzen. Das Westjordanland ist durch Hunderte Kontrollpunkte der Armee in Kantone zerstückelt. Das zerstört auch die Wirtschaft. Die Mauer trennt Dörfer und Familien voneinander. Wir sind Gefangene in unseren Städten. Jeden Tag sind wir damit beschäftigt, unser Überleben zu sichern, anstatt uns um die Zukunft zu kümmern.

SZ: Herrscht Einigkeit darüber, wie die Zukunft aussehen soll?

Aschrawi: Wir wollen in einem eigenen Staat in Freiheit leben und uns nicht von israelischen Soldaten vorschreiben lassen, wann wir wo hingehen dürfen.

SZ: Halten Sie Kurzstreckenraketen und Selbstmordattentate für ein geeignetes Mittel zur Staatsgründung?

Aschrawi: Wir haben nicht mit der Gewalt begonnen. Zu Beginn der Intifada vor sieben Jahren haben wir friedlich auf den Straßen demonstriert, die israelische Armee hat darauf mit scharfer Munition reagiert. Wir haben das Recht auf Widerstand.

SZ: Beinhaltet das auch das Recht, Israelis zu töten?

Aschrawi: Ich bin für friedlichen Widerstand, nicht dafür, auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren. Kurzstreckenraketen sind nicht die Art der Auseinandersetzung, die ich bevorzuge. Gewalt auf beiden Seiten muss verboten werden.

SZ: Die Hamas an der Spitze der Autonomiebehörde hält Gewalt für legitim.

Aschrawi: Wir müssen die Hamas einbinden, nicht ausgrenzen. Auch der internationale Boykott muss aufgehoben werden. Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, flüchten in Gewalt.

SZ: Hamas weigert sich, Israel anzuerkennen, weshalb Israel nicht mit der Palästinenserregierung redet. Was schlagen Sie vor?

Aschrawi: Wir brauchen internationale Hilfe und Truppen der UN. Das Misstrauen auf beiden Seiten ist so groß, dass wir ohne Unterstützung nicht miteinander ins Gespräch kommen. Wir brauchen internationale Truppen, die sowohl Palästinenser von Gewaltakten abhalten, aber auch garantieren, dass Israel die Militärschläge einstellt.

SZ: In jüngster Zeit gibt es Stimmen, die eine Auflösung der Autonomiebehörde fordern und einen Schritt zurück in die Zeit vor 1967: Die Autonomiebehörde soll aufgelöst, der Gaza-Streifen wieder von Ägypten und das Westjordanland von Jordanien kontrolliert werden.

Aschrawi: Diese Idee kursiert in letzter Zeit, aber ich frage mich, wie weit sollen wir zurückgehen? Demnächst kommt jemand und regt die Herrschaft der Türken oder des osmanischen Reiches an. Dass wir Palästinenser schon immer von anderen Herrschern regiert wurden, heißt ja nicht, dass wir nicht das Recht auf einen eigenen Staat besitzen.

© SZ vom 04.06.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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