Obdachlose in Frankreich:Das Gesetz der Straße

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Obdachlose haben der französischen Regierung das Versprechen abgerungen, ein einklagbares Recht auf Wohnung einzuführen. Dank dem Wahlkampf.

Gerd Kröncke

Wenn sie sich aus dem Fenster lehnen, dann schauen sie auf die prächtigen Säulen der alten Pariser Börse. Die Rue de la Banque im Zweiten Arrondissement, wo mit Geld Geld verdient wird, gehört zu den besten Adressen der französischen Metropole.

Mit den Iglu-Zelten am Pariser Kanal Saint-Martin hat die Organisation 'Die Kinder von Don Quijote' die Obdachlosigkeit zum Wahlkampfthema gemacht. (Foto: Foto: dpa)

Doch die neuen Bewohner, die hier in der Stille der Weihnachtstage eingezogen sind, gehören zu den Ärmsten der Republik. Tausend Quadratmeter in bester Lage hatten drei Jahre lang leergestanden, die Gesellschaft Lyonnaise de Banque war im Begriff, das repräsentative sechsstöckige Gebäude zu verkaufen. Dies wird sich nun verzögern, denn das Haus ist besetzt: eine Organisation, die sich Droit au logement (DAL), Recht auf Wohnung, nennt, hat dort zehn Familien untergebracht.

An eine Räumung ist so bald nicht zu denken. Die Stimmung, keine vier Monate vor den Präsidentschaftswahlen, würde gegen die Politik ausschlagen, denn seit Mitte Dezember ist die Lage der Wohnungslosen ins Zentrum der Diskussion gerückt - seit das pittoreske Bild vom Canal Saint Martin, mitten in Paris, um einige hundert Zelte ergänzt worden ist. Ein junger unbekannter Schauspieler, Augustin Legrand, und seine Initiative ,,Kinder von Don Quichotte'' sind damit zu plötzlicher Popularität gelangt.

Am Canal schlafen die SDF, sans domicile fixe heißt ohne festen Wohnsitz. Viele sind gescheitert, weil sie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt fanden, manche sind gestrandet nach privaten Katastrophen. Drogenabhängige sind darunter und illegale Zuwanderer. Sie alle können sich keine bezahlbare Wohnung leisten.

Villepin folgt Chirac

Zum Jahresanfang wurde Legrand mit ein paar Mitstreitern von Arbeits- und Sozialminister Jean-Louis Borloo empfangen. Der UMP-Abgeordnete Georges Fenech hat ihnen einen Gesetzentwurf für ,,das einklagbare Recht auf Wohnung'' erläutert.

Premierminister Dominique de Villepin ließ wissen, ein solches Gesetz werde noch im Februar verabschiedet. In seiner Neujahrsansprache an die Nation war der Staatspräsident selber auf die Initiative der ,,Kinder von Don Quichotte'' eingegangen. Jacques Chirac, bedrängt von der Situation der Unbehausten, kündigte ,,bedeutende Reformen'' an, ,,um ein wirkliches Recht auf Wohnung in Kraft zu setzen''. Ein Recht, ,,das einklagbar ist, und dadurch aus dem Recht eine Realität macht''.

Dabei haben schon einige seiner Vorgänger und Präsidentschaftskandidaten ähnliches versprochen. Angefangen bei Georges Pompidou über François Mitterrand bis hin zu Lionel Jospin, der verkündet hatte, die Quote der Obdachlosen auf Null zu bringen.

Diesmal ist es eher der konservative Nicolas Sarkozy, der sich engagiert. Er wolle dafür sorgen, dass es binnen zwei Jahren keine SDF mehr geben werde - falls die Franzosen ihn zum Präsidenten wählten. So konkret will sich Ségolène Royal, die sozialistische Konkurrentin, nicht festlegen. Sie teilte lediglich mit, sie habe mit den Kindern von Don Quichotte telefoniert. In einem Interview beklagte sie: ,,Die große Armut - dass sie in einem Land wie unserem noch besteht, das ist der Skandal''. Und dass es angesichts dieser Lage noch Leute gebe, ,,die immer mehr Rendite, immer mehr Profit einfahren''.

Was Augustin Legrand mit Aplomb inszeniert hat, versuchen andere Organisationen im Kleinkampf jeden Tag. Den Leuten der Association ,,Recht auf Wohnung'' verdankt zum Beispiel die 48-jährige Houira, dass sie vorübergehend eine geräumigere Bleibe hat. Die Marokkanerin war mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen von der Stadtverwaltung in einem Hotel untergebracht worden. ,,Das kostete 2200 Euro im Monat'', sagt Houira, ,,davon habe ich tausend bezahlt und für den Rest ist die Mairie aufgekommen. Konnte man für uns für so viel Geld nicht eine richtige Wohnung finden?''

Nun wohnt die Familie erst mal in der Rue de la Banque. Die Initiatoren wollen mit der spektakulären Hausbesetzung die Politiker, die sich auf ihren Wahlkampf vorbereiten, in Zugzwang bringen. Und weil es Symbole braucht, hat der Initiator Jean-Baptiste Eyraud an der Rue de la Banque ein ,,Ministerium der Wohnungskrise'' gegründet.

Ein Mediencoup

So machen sich die Aktivisten an der Sozialfront die nachrichtenarme Zeit nach den Festtagen und zum Jahresbeginn zu Nutze. Aber keiner hat das so gut verstanden wie der 31-jährige Augustin Legrand, dessen Name bislang nicht aufgefallen war. Mit der Gründung der ,,Kinder von Don Quichotte'', hat er eine Hauptrolle gefunden. Und wer den wütenden Mann am Canal Saint Martin erlebt hat, möchte hoffen, dass der Schauspieler keine Show abzieht.

Ohne Unterlass wieselt der schlaksige Zwei-Meter-Typ zwischen den Zelten herum, beschwichtigt hier einen Streit und gibt dort einem Reporter Auskunft. Sein Abenteuer begann im Oktober, als er seine Wohnung verließ und für sechs Wochen unter SDF lebte. Dabei kam ihm die Idee, mit den Obdachlosen am Canal Saint Martin zu kampieren.

Inzwischen hat die Bewegung von Don Quichottes Kindern neue Abkömmlinge: Einige Zelte, am Strand von Nizza aufgeschlagen, wurden von der Polizei entfernt, weil sie zu dicht am Wasser standen. In Toulouse blieben sie stehen, auch mitten in Lyon, auf dem Postkarten-Platz ,,Bellecour''.

Mit Bitterkeit aber reagieren die Organisationen, die schon jahrelang gegen das Elend kämpfen. ,,Das ist ein Mediencoup und alle Welt fällt darauf rein'', sagt Yves Perret, der vor zehn Jahren sein Geschäft verkauft hat, um sich den Obdachlosen zu widmen. Seine Association ,,Notre-Dame des Sans-Abri'' betreut Hunderte von SDF. ,,Es wäre schön'', ergänzt einer der Helfer, ,,wenn die Leute, die heute mobilisiert sind, uns bei der täglichen Arbeit behilflich sein könnten."

Einer der Veteranen der Menschlichkeit, Bernard Kouchner, äußert hingegen viel Verständnis für Legrand und seine Freunde, fast Bewunderung. Man müsse auffallen, weiß Kouchner aus Erfahrung. Der Mitbegründer der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen weist auf die Macht der Bilder hin.

,,Wo keine Bilder sind'', so sein Argument, ,,wird das Unglück nicht wahr genommen''. Er und seine ,,French Doctors'' haben die Öffentlichkeit einst mit den Bildern von den verhungernden Kindern aufgerüttelt. ,,Les enfants de Don Quichotte'', sagt Kouchner, ,,das sind irgendwie unsere Nachkommen. Ich gratuliere ihnen.''

© SZ vom 4.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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