Neonazis:Wie man den Mond auf die Erde holt

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Neonazis bekämpft man nicht durch Exorzismus, sondern auf der Straße. Eine Reise durch den Osten.

von Heribert Prantl

Im Herbst 1996 bin ich mit Leoluca Orlando, dem damaligen Bürgermeister von Palermo und Gründer der Anti-Mafia-Partei "La Rete", durch Sizilien gefahren; die Zeitungen nennen den Mann den "Mafia-Jäger".

Wir saßen in Imbraica, im Innenhof seines Landsitzes, er zeigte in den nachtblauen Himmel, hinauf zum Franziskaner-Kloster, das auf dem höchsten Felsvorsprung von Corleone sitzt.

Er wollte Fra Paolo dort im Kloster besuchen. Die Leibwächter wurden nervös, Leoluca ließ die gepanzerten Wagen stehen, lief den Berg hoch, durch die steilen Gassen von Corleone - auf dem Weg schaute er hier in eine Kneipe und dort in einen Barbiersalon, suchte manisch den Kontakt mit den Leuten.

Man müsse, sagte er, zeigen, dass man sich nicht fürchtet, dass man keine Angst hat, dass man den öffentlichen Raum nicht "denen" überlässt.

Nicht "denen" - das waren die, die ein paar Jahre vorher Orlandos Freunde, den Staatsanwalt Falcone und den Richter Borsellino ermordet hatten. Soeben hatte in Florenz der Prozess gegen die Corleonisi begonnen.

Am Tag darauf zeigte mir Leoluca Orlando sein Palermo - Kirchen, die jetzt auch nachts geöffnet sind, die Oper, die er wiedereröffnen werde (was mittlerweile geschehen ist).

Wiederentdeckung der Zivilcourage

Er redete von der Wiedergeburt Palermos : "Als ich mit meiner politischen Tätigkeit begann, war Palermo nur physisch eine Stadt. Es gab keinen Gemeinsinn. Als aber die Mafia anfing, exzessiv zu morden, als sie die beliebten Richter und Polizisten tötete, da bekamen die Menschen Angst. Sie sind auf die Straßen und Plätze gegangen und haben entdeckt, dass es eine Stadt gab, die außerhalb der eigenen Häuser existierte."

Was er meinte: die Wiederentdeckung der Zivilcourage und der Zivilgesellschaft. Schulklassen, so erzählte er, haben die Partnerschaft für Kulturdenkmäler übernommen, Betriebe haben einen Platz adoptiert.

An Orlando und den Kampf der Zivilgesellschaft gegen die Mafia habe ich vor ein paar Monaten gedacht, als ich auf den Spuren der Arbeit der Freudenberg-Stiftung durch Ostdeutschland gefahren bin; diese Stiftung fördert Projekte gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit.

"Demokratie lernen" heißt das in der Sprache der politischen Bildung. Ich war im sächsischen Wurzen, in Joachimsthal in der Uckermark und in Anklam in Vorpommern.

Die Jugendlichen in Wurzen erzählten, wie sie sich gegen die Glatzen wehren, was sie tun, wenn Rechtsextreme zu Mahnwachen aufmarschieren; und sie zeigten stolz das alte Domherrenhaus neben dem Dom, das sie mit Spenden kaufen konnten, und das sie in Eigenregie renovieren und in ein Kultur- und Bürgerzentrum verwandeln.

Die Pfarrerin von Joachimsthal hat geschildert, was passieren kann, wenn man deutsche und türkische Jugendliche in die Kirche einlädt, um dort miteinander Musik zu üben:

BAFF heißt ihr Projekt - Bands auf festen Füßen. Und sie erzählte, wie zittrig diese Füße am Anfang waren, wie die rechte Kameradschaft am Ort bei einem Konzert in der Kirche die Polizei durch einen fingierten Notruf weglockte, das Gotteshaus umstellte und die jungen Musiker verprügelte.

Sie erzählte, wie man sie vertreiben wollte, wie im Pfarrhaus 13-mal eingebrochen wurde und die Täter Verwüstungen hinterließen.

Durchhalten

Ich dachte an Leoluca Orlandos Motto zur Bekämpfung der Mafia. Die Pfarrerin berichtete, wie sie durchgehalten hat - und warum: Weil sie Hilfe und Unterstützung gefunden hat, weil eine Stiftung da war, als kaum sonst jemand für sie da war; die Stiftung war die Amadeu Antonio-Stiftung, benannt nach dem Angolaner, der in Eberswalde ermordet worden war.

Sie wird von der Aktion "Mut gegen rechte Gewalt" des Stern unterstützt. So wie der Pastorin ergeht es den Leuten von "Bunt statt Braun" in Anklam.

Nicht immer ist es eine braune Mafia, mit der solche Projekte zu kämpfen haben. Bisweilen ist es auch nur unbewegliche Bürokratie, sind es Leute, die hinter dem Schreibtisch bürgerschaftliches Engagement mit dem Satz abblocken: "Wir sind nicht zuständig". Dieser Satz ist ein Alarmsatz für die Zivilgesellschaft.

Unzuständigkeiten: Wieder Wurzen, Sachsen. Die Lehrerin kommt in die Klasse, auf der Tafel steht: "Juden vergasen!" Der Schulleiter, bei dem die Lehrerin Rat sucht, wimmelt ab: "Warum kommen Sie zu mir? Für Tafelabwisch ist der Hausmeister zuständig!"

Wenn für den Tafelabwisch der Hausmeister zuständig ist, für die Rechtsextremisten der Verfassungsschutz, für ihre Opfer das Krankenhaus und für die kahlgeschorenen Kameraden die ABM-Mutti, die ihnen den Schlüssel für das Jugendzentrum überreicht, wenn Schüler ihre Lehrer mit "Heil Hitler" grüßen und dafür gar niemand zuständig ist, weil, so die Lehrer, "wir gar nicht mehr zum Unterrichten kämen, wenn wir uns auch noch damit auseinandersetzen müssten" - wenn Politik dann noch immer nicht sehen will, dass Feuer am Dach ist: Dann muss man dem Himmel danken, wenn Stiftungen als Feuerwehr und Technisches Hilfswerk auftreten, wenn es Aktionen gibt wie "Mut gegen rechte Gewalt" und wenn Leute wie Udo Lindenberg mit "Musik gegen rechte Gewalt" durch den Osten tingeln.

Nestbeschmutzer ist der, der es säubert

Wo die Mitte der Gesellschaft braun schillert, gilt als linksradikal, wer das Grundgesetz verteidigt. In Wurzen und in vielen anderen wurzenähnlichen Orten gilt als Nestbeschmutzer nicht der, der das Nest beschmutzt, sondern der, der es säubert.

"Man darf den öffentlichen Raum nicht ,denen' überlassen", hatte der Anti-Mafia Mann Leoluca Orlando gesagt. Nicht "denen": In Ostdeutschland sind es rechte Kameradschaften, die den öffentlichen Raum besetzen; Rechtsradikale sind gut verwurzelt in den Freiwilligen Feuerwehren; in ganzen Kleinstädten ist der Rechtsextremismus zur dominanten Jugendkultur geworden.

Jeder ist links, der nicht rechts ist

Auf Schulhöfen zumal der Berufsschulen dominieren kahlgeschorene Jungmänner. Die NPD sitzt in Stadträten, die rechten Cliquen sitzen in den Kneipen, bei Sportveranstaltungen und Stadtfesten. Als links gilt in weiten Landstrichen der ostdeutschen Provinz jeder, der nicht rechts ist oder nicht die Schnauze halten will.

Das ist das Milieu, in dem die Netzwerke für Demokratische Kultur arbeiten. Der Staat hat unendlich viel Geld in die Wirtschaft und Infrastruktur investiert, aber viel zu wenig in die Demokratie. Nach der Einheit hat man geglaubt, wenn man den Boden mit freiem Wettbewerb düngt, wächst darauf demokratisches Leben. Man hat sich getäuscht.

Die Menschen im Osten waren nach der Wende nicht Anpacker, sondern wurden angepackt. Sie riefen die Mark, und dann rollte die Marktwirtschaft über sie hinweg.

Viele ließen das ergeben geschehen. Sie jammerten, soffen, schimpften auf den Staat und hatten und haben nichts dagegen, sich von ihm aushalten zu lassen.

Vor ein paar Jahren begann die Larmoyanz zu weichen, an ihre Stelle tritt immer häufiger selbstbewusste Demokratieverleugnung. Nicht wenige Ostdeutsche glauben gelernt zu haben, dass ihnen einst die DDR-Machthaber über das Wesen des Kapitalismus so viel Falsches nicht erzählt haben.

Sie fliegen nach Mallorca, schwärmen von der Gemütlichkeit der alten DDR, werden aber ungemütlich, wenn es um Ausländer geht - und sie wählen DVU und NPD.

Ohne Unterstützung von Stiftungen hätte sich die Pfarrerin aus Joachimsthal nicht halten können. Heute stehen Bands in fünfzig Kirchengemeinden rund um Berlin wirklich auf ziemlich festen Beinen.

So entsteht dort eine Gegenkultur gegen die Rechtsextremen. Die sind nicht verschwunden, aber der Pfarrerin geht es besser und ihrer Gemeinde auch: langsam wächst so etwas wie Solidarität.

Wenn in Ostdeutschland Neonazis "ausländerfreie" oder "national befreite" Zonen proklamieren, dann sagt das genau, worum es gehen muss: Um die Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Werte der Demokratie und der Toleranz.

Die besonderen Probleme in Ostdeutschland verleiten freilich im Westen dazu, sich pharisäerhaft zu gerieren; als ob Zivilcourage und Verantwortungsgefühl nicht auch hier Mangelware wären.

Verwahrlosung des öffentlichen Raums kann so viele Ursachen haben. In Sizilien heißt das, was das Gemeinwesen zerstört: Mafia. In Deutschland heißt es: Neonazismus, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit.

Es heißt Ausgrenzung, Desintegration, Jugendarbeitslosigkeit, Zerfall des sozialen Zusammenhalts. Es heißt Sprachlosigkeit zwischen Deutschen und Ausländern, zwischen Altbürgern und Neubürgern.

Es heißt Rückzug der Ausländer in die Ethnie. Es heißt Verantwortungsdiffusion und Egoismus. Mafia in Deutschland hat andere Namen, eine andere Geschichte, sie funktioniert anders.

Aber sie richtet vergleichbares Unheil an. Und hier wie dort wird oder wurde geleugnet, dass es sie gibt: "Mir ist nicht bekannt, dass es bei uns Rechtsradikale gibt", so sagen Bürgermeister gern.

Dagegen helfen die klassischen Methoden der Bekämpfung von organisierter Kriminalität nicht viel weiter. Mit Kronzeugenregelungen, mit den Mitteln und Methoden des starken Staats ist es nicht getan.

Man braucht eine starke Zivilgesellschaft. Es ist auch nicht damit getan, Auschwitzlüge und Volksverhetzung unter Strafe zu stellen, die Synagogen zu bewachen, ein paar Neonazis aus dem Verkehr zu ziehen und den Zentralrat der Juden zu beruhigen.

Der Antisemitismus ist nicht nur ein Angriff auf eine Minderheit in Deutschland, auf eine, der man aus historischen Gründen besonders verpflichtet ist.

Sicher nur noch auf dem Mond

Er ist ein Angriff, der die Gesellschaft insgesamt bedroht. "Vor dem Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher", hat Hannah Arendt gesagt.

Umso wichtiger sind die Versuche, den Mond auf die Erde zu holen. Und damit ist man wieder bei der Arbeit der Zivilgesellschaft. Den Mond auf die Erde holen: Das klingt unmöglich, trotzdem geschieht es.

Als im Jahr 1997 das "Europäische Jahr gegen Rassismus" eröffnet wurde, genierten sich die deutschen Regierungspolitiker für das Wort "Rassismus" beinah mehr als für die Vorfälle, die es bezeichnete.

Der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) war deshalb froh, als das Jahr wieder vorbei war, und er selbst es fertig gebracht hatte, das Wort Rassismus so gut wie nicht in den Mund zu nehmen.

Folklore, Gyros, Tralala, das alles wollte er gerne fördern, mehr aber nicht; vor allem wollte er nicht vom alltäglichen Rassismus in Deutschland reden, von dessen Ursachen und von dessen Bekämpfung.

Die politische Phobie gegen das Wort Rassismus ist verschwunden. Kanthers Nachfolger Otto Schily (SPD) hat sich getraut, ein "Bündnis gegen Rassismus" zu gründen.

Die Erkenntnis, dass es nicht reicht, damit alljährlich eine Art Muttertag für Ausländer zu protegieren, ist aber erst nach den ausländerfeindlichen Anschlägen im Sommer 2000 gereift - und leider schon bald wieder aus dem Bewusstsein verschwunden.

Politischer Exorzismus

Um den Neonazismus aus Deutschland auszutreiben, findet hierzulande alle paar Jahre, nach besonders aufsehenerregenden Anschlägen oder nach besonderen Wahlerfolgen der Rechtsextremisten, eine Art politischer Exorzismus statt.

Die Handlungen, die zu diesem Zweck vollzogen werden, reichen vom politischen Lärmen bis hin zum Verbotsantrag.

Als der Verbotsantrag für die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte (aus Gründen, welche die Verfassungsschützer selbst zu vertreten hatten), brach auch der Aufstand der Anständigen bald wieder zusammen.

Im Gefolge des gescheiterten Verbotsantrags bröckeln nun die staatlichen Programme zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, mit denen bisher lokale Initiativen, Opfer und Jugendsozialarbeit finanziert wurden.

Wenn die Zahl der Anschläge nicht sinkt, dann heißt es in Teilen der Politik: "Die Programme sind eh nicht erfolgreich." Wenn die Zahl der Anschläge sinkt, heißt es: "Die Programme brauchen wir nicht mehr."

Die Folge solcher Ignoranz ist, dass der exorzistische Klamauk alle paar Jahre von neuem beginnt.

Die Projekt-Arbeit gegen Rechtsextremismus zeigt, wo die Mittel und Möglichkeiten des Staats liegen. Und sie zeigt auch, dass es ohne die Zivilgesellschaft nicht geht.

Sie entsteht, wenn die Zivilcourage vieler sich addiert, wenn sie sich zusammenfügt wie in einem gigantischen Puzzle. Zivilgesellschaft ist gebündelte Zivilcourage.

Zivilcourage ist es, den Opfern rechter Gewalt zu helfen, sie zur Polizei zu begleiten, das Feld nicht denen zu überlassen, die sich "Sturmfront" oder "White Power" ans Autofenster kleben.

Es ist bitter, wenn die Initiativen gegen Rechts finanziell von der Hand in den Mund leben müssen. Dem Bund stünde es gut an, solche Courage langfristig zu unterstützen.

Verfassungsschutz ist nicht (oder nicht nur) das, was sich in einer Bundesbehörde dieses Namens etabliert hat. Das ist der amtliche Verfassungsschutz. Der vitale Verfassungsschutz lebt in den bürgerschaftlichen Initiativen.

Am 1. Januar 2005 wird der Zuwanderungskompromiss als Gesetz in Kraft treten. Dieses Gesetz sollte einen großen Teppich weben, auf dem künftig Integration stattfinden kann. Nun ist ein Topflappen daraus geworden.

Aber was hülfe uns das schönste Gesetz, was hülfe uns der größte Teppich, wenn die Gesellschaft nicht bereit ist, ihn auszurollen? Diese Bereitschaft kann man nicht legislativ verordnen.

Sie muss auf andere Weise hergestellt werden. Auch hier liegt der Wert der Arbeit von Bürgerinitiativen, Projekten, Stiftungen. Deutschland wird eine Werkstätte der Kulturen sein müssen.

Lehrerinnen und Lehrer werden schon in ihrer Ausbildung auf den multikulturellen Arbeitsalltag vorbereitet werden müssen. Es werden mehr und mehr Lehrer aus eingewanderten Familien ausgebildet und eingestellt werden müssen.

Und wenn einmal der Name Ügüzlük für einen Lehrer, einen Polizisten, einen Richter, Manager oder einen Journalisten so selbstverständlich sein wird wie Maier, Huber, Prantl, Konietzky, Kister oder Kilz, dann ist diese Gesellschaft da, wo sie hin muss.

© SZ am Wochenende vom 18.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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