Mythen über Serientäter:Von der Banalität des Verbrechens

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Eine neue Studie des Bundeskriminalamtes enthüllt, warum das gängige Bild über Vergewaltiger und Sexualmörder revidiert werden muss.

Von Joachim Käppner

Die Frau ging zum Pilzesammeln in den Wald, das Mädchen und das Kleinkind blieben im Auto. Aber sie waren nicht mehr da, als die Frau zurückkam.

Hunderte von Polizisten suchten 1994 bei der sächsischen Stadt Torgau nach der 17-jährigen Antje Köhler und ihrer erst 18 Monate alten Cousine Sandy Hofmann. Erst Wochen später wurden die Leichen der beiden Vermissten gefunden, weit entfernt in der Nordheide bei Hamburg. Antje Köhler war missbraucht worden.

Lange Jahre blieb der grausame Fall ungeklärt. 2001 beschäftigte sich eine noch recht neue Einheit des Bundeskriminalamtes noch einmal damit: die Fahnder der OFA, der Operativen Fallanalyse. Zu ihnen gehörten die jungen Beamten Ursula Straub und Rainer Witt.

Sie sind das, was man in der Öffentlichkeit und in reißerischen Fernsehkrimis als "Profiler" bezeichnet, nach dem englischen Ausdruck für den Kriminalisten, der versucht, das psychologische Profil eines unbekannten Täters zu entwerfen.

Es ist eine Bezeichnung, welche die Fallanalytiker gar nicht schätzen, auch deshalb nicht, weil damit Erwartungen geweckt werden, welche die streng wissenschaftlich orientierte OFA vielleicht nicht erfüllen kann.

"Wir standen vor der Frage", sagt der heute 37-Jährige Kriminalhauptkommissar Witt, "lebte der Täter eher in der Nähe des Tatorts, also dort, wo er die Mädchen entführte, oder eher dort, wo sie gefunden wurden?" Das Team kam zu dem Schluss: "Kaum ein Täter wird den Aufwand betreiben, die Leichen Hunderte von Kilometern zu transportieren, um sie dann quasi vor seiner Haustür abzulegen."

"Reise in die Finsternis"

Die Bewegungsmuster des Täters, oder - wie die Kriminalisten sagen - sein "geografisches Verhalten", können den Code enthalten, der verrät, wo der Gesuchte ist. Die BKA-Spezialisten erstellten also eine geografische Fallanalyse, eine neue kriminalwissenschaftliche Methode.

Der mögliche Aufenthaltsort des Entführers wurde eingekreist, anschließend lud die Polizei 15600 Männer aus der Region Torgau zum bis dahin größten deutschen Massen-Speicheltest.

In einem Fall stimmte der Vergleich mit den genetischen Spuren vom Tatort: Der Häftling Gerhard D. war der Mörder von Antje Köhler und Sandy Hoffmann. An dem Tag, als er zufällig auf die beiden Mädchen stieß, war er auf der Flucht: Er hatte seine Freundin erschlagen. Er nahm sich im Gefängnis das Leben.

Wo suchen Sexualstraftäter ihre Opfer, wie bewegen sie sich, was verraten ihre Bewegungen über sie? Dieser Frage sind die Fallanalytiker des BKA auch wissenschaftlich nachgegangen.

Ihre eben fertiggestellte Studie beschäftigt sich mit dem "geografischen Verhalten fremder Täter bei sexuellen Gewaltdelikten", also mit Fragen wie: Kommen Täter aus dem Umfeld, der Nachbarschaft, dem Wohnort des Opfers? Oder sind sie reisende "Cruiser", die das Land durchstreifen auf der Suche nach Opfern?

Letzteres würde dem Bild entsprechen, dass die legendären ersten Profiler der US-Bundespolizei FBI, John Douglas und Robert Ressler, in den achtziger Jahren entworfen haben. Nicht ohne Hang zur Selbstverklärung bezeichnet Douglas seine Suche nach Serienmördern und -vergewaltigern als "Reise in die Finsternis".

Ressler behauptete sogar, als Resultat der modernen Zeiten und höheren Mobilität läge die Zahl der "stranger-to-stranger"-Morde, bei denen die Täter den Opfern völlig fremd waren, bei 50 Prozent aller Mordfälle. Das Bild vom kaum fassbaren, triebgesteuerten, aber genialisch planenden und durch die Lande reisenden Serienmörder war geboren.

Die neue Studie lässt von diesem Mythos wenig übrig - so wenig, dass selbst Harald Dern, 43, einer der erfahrensten OFA-Beamten des BKA, sagt: "Wir waren selber erstaunt, wie regional orientiert solche Täter sind."

Fundort der Leiche sagt wenig darüber aus, wo der Täter lebt

Der allergrößte Teil der Sexualstraftäter stammt nach der Studie, die aber keine Taten aus dem Familien- oder Bekanntenkreis erfasst, "aus dem sozialen Nahraum des Opfers". In der Regel lebt der Täter höchstens 20 Kilometer von jenem Ort entfernt, an dem er auf sein Opfer traf, dem "Kontakt ort".

Meist ist die Distanz noch weit geringer. Bei Sexualmorden an Kindern - die ja weitaus seltener sind, als es der Öffentlichkeit erscheint - hatte mehr als die Hälfte der Täter ihren "Ankerpunkt", also Wohnung oder auch Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft des Opfers, weniger als 1000 Meter entfernt. Der Fundort der Leiche sagt dagegen weniger darüber aus, wo der Täter lebt. Oft werden Opfer eines Sexualverbrechens, wie im Fall des Torgauer Doppelmordes, weit vom Tatort entfernt versteckt.

Für die Mordkommissionen liefert die Studie also sehr wichtige Erkenntnisse. Ursula Straub: "Der Täter geht in der Regel dorthin, wo er sich auskennt. Man könnte also sagen: Die damit häufig verbundene Nähe zum Wohnort ist oft ursächlich für die spätere Tötung des Opfers.

"Die neue Studie ergänzt und bestätigt eine Untersuchung von Ursula Straub und Rainer Witt über "polizeiliche Vorerkenntnisse von Vergewaltigern" aus dem Jahr 2002. Hinter dem leicht sperrigen Titel verbirgt sich nicht weniger als ein stark revidiertes, um nicht zu sagen neues Bild des Sexualstraftäters.

Fast niemals nämlich entspricht seine Karriere dem gängigen Bild, wonach er mit einschlägigen Delikten wie Exhibitionismus beginnt und sich dann zum Serienvergewaltiger oder gar Sexualmörder steigert.

Dern: "Lange wurde der Blick auf die Einschlägigkeit von Sexualstraftätern gerichtet. Es handelt sich aber in der Regel um Täter, die zuvor durch eine Vielzahl von unterschiedlichsten Delikten, vom Diebstahl, Raub bis zur Körperverletzung, polizeilich aufgefallen sind."

Man könne daher von "dissozialen Persönlichkeiten" sprechen, für die Vergewaltigungen eine unter vielen Verstößen gegen die Norm sind. Selbst Sexualmorde werden meist nicht aus einem perversen Tötungstrieb heraus begangen, sondern weil der Täter das Opfer als Zeugen beseitigen will.

No Monsters here

Beide Studien zusammen sind keineswegs nur für Fachleute bedeutsam. Einerseits rücken sie dem Mythos zu Leibe: "Das Bild vom unheimlichen, eiskalt und sorgfältig planenden Serientäter hat mit der Realität wenig zu tun", sagt Dern.

Ein Blick in die Psyche des Täters gleicht weniger einer Reise in die Finsternis als einem Einblick in die Banalität des Verbrechens. Andererseits könnten die Studien auch rechtspolitische Fragen aufwerfen, etwa für die Diskussion um eine Ausweitung der DNA-Datenbank, die fast sämtliche Innenminister der Länder fordern, gegen den Widerstand von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries.

Die derzeit noch hohen Hürden für eine Erfassung in der "Gendatei" führen nämlich dazu, dass ein Großteil der in der ersten Studie beschriebenen Intensivtäter erst spät gespeichert wird.

Dürfte ein genetischer Fingerabdruck so leicht erfasst werden wie ein echter, würden spätere Vergewaltiger schon sehr früh in der DNA-Datenbank registriert - und könnten enttarnt und gefasst werden, bevor sie neue Taten begehen.

Und dann gibt es noch einen Mythos, den die BKA-Studien entlarven und den Harald Dern ironisch "No Monsters here" nennt. Schon oft hat Dern nach Sexualmorden einen "Schutzmechanismus" bei der örtlichen Bevölkerung beobachtet: "Der kommt nicht von hier."

Es hat Fälle gegeben wie den der achtjährigen Julia aus Biebertal, wo der Mörder selbst als empörter Ortsbewohner vor die Kameras trat und versicherte, er habe es nie für möglich gehalten, dass so etwas Schreckliches hier passieren könne.

Später war der Mann wieder im Fernsehen zu sehen, als Angeklagter und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Er hatte wohl beim Versuch, die Spuren des Verbrechens zu beseitigen, sich versehentlich selbst angezündet und schwere Verbrennungen erlitten. Er war ein Nachbar von Julias Familie.

© SZ vom 13.08.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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